Die EU betrachtet sich selbst gern als normative Macht. Eine Wertegemeinschaft, die sich der Wahrung des Völkerrechts, der Förderung des Friedens, dem Schutz von Zivilisten und dem Aufbau einer regelbasierten Weltordnung verpflichtet fühlt. Dies sind nicht nur hehre Ideale, sie sind in den EU-Verträgen sowie in den Erklärungen und Beschlüssen des Europäischen Rates verankert. Doch wenn es um die nicht enden wollende, brutale Zerstörung Gazas sowie um die anhaltende illegale Besetzung Palästinas geht, scheinen diese Prinzipien zu leerer Rhetorik zu verkommen. Schlimmer noch: Sie werden aktiv untergraben durch die ängstliche Tatenlosigkeit der EU-Institutionen sowie durch die Blockadepolitik von Regierungen wie der deutschen, italienischen, ungarischen und tschechischen.

Auch die Europäische Kommission war bis dato auf eine beschämende Art und Weise abwesend. Erst auf jüngsten Druck vieler Mitgliedstaaten hin schlug sie die wohl zaghafteste aller Maßnahmen vor, indem sie den Rat für Auswärtige Angelegenheiten bat, israelischen Unternehmen den Zugang zu entziehen, die im Rahmen des Förderprogramms EIC Accelerator von „Horizont Europa“ für Dual-Use-Technologie finanzielle Unterstützung beantragt haben. Selbst dieser Minimalvorschlag der Kommission wurde jedoch bislang von mehreren EU-Ländern, darunter Deutschland und Italien, blockiert. Damit wurde erneut gegen die bestehenden Konditionalitätsklauseln des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Israel verstoßen, welche die Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts vorschreiben.

Während Hunderttausende palästinensische Zivilisten getötet, verstümmelt, ausgehungert und vertrieben werden, zaudert die Europäische Union. Der Internationale Gerichtshof hat aufgrund des plausiblen Risikos eines Völkermords in Gaza vorläufige Maßnahmen gegen Israel verhängt – Maßnahmen, die die Regierung Netanjahu rundweg ignoriert. Zudem stellte das Gericht fest, dass die Besetzung palästinensischen Territoriums durch Israel rechtswidrig ist und ein Verbrechen der Segregation oder Apartheid darstellt. Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Premierminister Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Gallant wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen. Die Vereinten Nationen, Menschenrechtsorganisationen und viele ehemalige hochrangige israelische Militär- und Geheimdienstoffizielle schlagen Alarm über Israels katastrophales Vorgehen in Gaza und seine entmenschlichende Politik im Westjordanland.

Die EU verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, um Israel unter Druck zu setzen und den brutalen Krieg in Gaza zu beenden.

Die Zeit des Händeringens und leerer Erklärungen ist vorbei. Die EU verfügt über zahlreiche Möglichkeiten, um Israel unter Druck zu setzen und den brutalen Krieg in Gaza zu beenden. Ebenso kann sie auf ein Ende der Besatzung drängen und den Weg zu einer tragfähigen Zwei-Staaten-Lösung ebnen, sodass ein unabhängiger und demokratischer palästinensischer Staat in Frieden neben Israel existiert.

Sollte die Europäische Union nicht in der Lage sein, den politischen Willen für ein gemeinsames Handeln aufzubringen, um EU-weite restriktive Maßnahmen zu ergreifen – wie etwa die Aussetzung des Assoziierungsabkommens, ein generelles Handelsverbot mit den illegalen israelischen Siedlungen, Sanktionen gegen Regierungsvertreter und Militärs sowie die Einstellung von Waffenlieferungen oder die Aussetzung von „Horizont Europa“ –, dann läge die moralische, politische und rechtliche Verantwortung bei den einzelnen Mitgliedstaaten.

Länder wie Spanien, Irland und Slowenien haben bereits mutige Schritte unternommen, indem sie den Staat Palästina anerkannt und Rechenschaft für Israels Verbrechen gefordert haben. Das reicht jedoch nicht. Die Länder Europas, die vorgeben, die Menschenrechte zu unterstützen und das Völkerrecht zu wahren, müssen mit gutem Beispiel vorangehen und innerhalb ihrer eigenen Zuständigkeiten handeln. Es gibt eine Reihe konkreter Schritte, die sie dabei ergreifen können. Dazu gehören unter anderem folgende Maßnahmen:

Erstens: Die einseitige Aussetzung oder Aufhebung von Genehmigungen für Waffenexporte nach Israel im Rahmen der jeweiligen nationalen Exportkontrollgesetze, einschließlich für Dual-Use-Güter und -Technologien.

Zweitens: Im Hinblick auf „Horizont Europa“ kann jeder Mitgliedstaat die Finanzierung national kofinanzierter Projekte mit israelischer Beteiligung stoppen, oder sich aus gemeinsamen Forschungsabkommen mit israelischen Institutionen zurückziehen. Universitäten und Forschungseinrichtungen können zudem angewiesen werden, mit bestimmten israelischen Einrichtungen nicht zu kooperieren.

Die Mitgliedstaaten können auf nationaler Ebene Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen verhängen.

Drittens: Die Mitgliedstaaten können auf nationaler Ebene Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen verhängen. Dazu gehören unter anderem Einreiseverbote und das Einfrieren von Vermögenswerten. Während das Vereinigte Königreich und einige nordische Länder über solche Gesetze verfügen, könnten andere Staaten Anti-Geldwäsche- oder Anti-Terrorismus-Gesetze nutzen, um Vermögenswerte einzufrieren. Mitgliedstaaten können auch nach nationalem Einwanderungsrecht Personen die Einreise verweigern, wie es Frankreich und Slowenien getan haben.

Viertens: Während ein umfassendes Handelsverbot für Siedlungen in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fällt, können die Mitgliedstaaten siedlungsbezogene Unternehmen von der öffentlichen Auftragsvergabe und aus staatlichen Investmentfonds ausschließen. Staatsunternehmen oder Staatsfonds können sich aus Siedlungsunternehmen zurückziehen, wie es Norwegen getan hat. Außerdem können nationale Behörden Hafenanläufe für israelische Marineschiffe oder die Nutzung des Luftraums durch israelische Militärflugzeuge verbieten.

Fünftens: Mitgliedstaaten, die über eine universelle Gerichtsbarkeit verfügen – wie zum Beispiel Deutschland, Spanien, Belgien, Frankreich und Schweden –, können mutmaßliche israelische und palästinensische Kriegsverbrecher bei Einreise oder teils auch in Abwesenheit strafrechtlich verfolgen. Die baltischen Staaten und die Tschechische Republik können zudem Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen auch außerhalb des EU-Rahmens verhängen. Alle Mitgliedstaaten sind natürlich verpflichtet, den Internationalen Strafgerichtshof bei Haftbefehlen und Ermittlungen zu unterstützen.

Einzelne Länder sollten Koalitionen der Willigen bilden, die selbst handeln. Das würde nicht nur europäische Blockierer neutralisieren, sondern auch eine kritische Masse an Unterstützung innerhalb der EU und darüber hinaus schaffen, vor allem auch in der arabischen Welt und im weiteren Globalen Süden, um den Schutz und die Durchsetzung des Völkerrechts voranzubringen.

Und doch bleibt die EU wie gelähmt – blockiert durch die politische Obstruktion einiger weniger Mitgliedstaaten und durch die inakzeptable Unwilligkeit, die israelische Regierung mit spürbaren Konsequenzen zu konfrontieren.

Das Versagen der EU, zu handeln, ist nicht nur ein Verrat am palästinensischen Volk.

Das Versagen der EU, zu handeln, ist nicht nur ein Verrat am palästinensischen Volk. Es ist eine direkte Bedrohung für die Glaubwürdigkeit und das Ansehen Europas in der Welt. Wie kann die EU erwarten, ernst genommen zu werden, wenn sie Rechenschaft für russische Kriegsverbrechen in der Ukraine fordert, während sie Israel vor jeglicher Sanktion, Kontrolle oder wirksamem Druck schützt?

Diese Heuchelei entgeht der internationalen Gemeinschaft natürlich nicht, insbesondere nicht dem Globalen Süden, wo die Erinnerungen an Kolonialismus und Doppelstandards tief sitzen. Afrikanische, lateinamerikanische und arabische Führer erkennen die selektive Empörung der EU als das, was sie ist: eine Fortsetzung eurozentrierter Außenpolitik, die geopolitische Verbündete bevorzugt und Gegner bestraft – ungeachtet der zugrunde liegenden universellen Prinzipien.

Europas Ansehen als prinzipientreuer, verlässlicher und regelbasierter Akteur wird nicht von autoritären Regimen wie Russland oder China zerstört, sondern durch die eigene Weigerung, das Völkerrecht durchzusetzen, wenn der Täter ein Verbündeter ist.

Im Kern dieser beschämenden Lähmung stehen Regierungen, die sich für die Straflosigkeit Israels entschieden haben. Deutschlands historische Verantwortung, jüdisches Leben und die Sicherheit des jüdischen Volkes zu schützen, rechtfertigt keinesfalls, die Handlungen der israelischen Regierung über das Völkerrecht zu stellen. Unter der hochproblematischen politischen Prämisse der bedingungslosen Unterstützung Israels als Teil der deutschen „Staatsräson“ ist Berlin zum wichtigsten Unterstützer der israelischen Regierung in Europa geworden. Deutschland liefert Waffen, blockiert EU-Maßnahmen und unterdrückt innenpolitischen Widerspruch. Nur dank wachsenden öffentlichen Drucks – inzwischen wollen zwei Drittel der Deutschen, dass ihre Regierung wirksame Maßnahmen gegen Israel ergreift – kündigte Kanzler Merz am 8. August den beispiellosen Schritt an, dass Berlin vorübergehend Waffenlieferungen einstellt, welche die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte in Gaza einsetzen kann. Später unterstrich er jedoch, dass Deutschland keine EU-Handelssanktionen gegen Israel unterstützen werde.

Deutschland ist leider nicht das einzige EU-Mitglied, das sich in beschämender Weise durch fehlendes Engagement und Handeln auszeichnet.

Wenn die deutsche Regierung es wirklich ernst meinen würde mit der Sicherung von Israels Zukunft und der Verhinderung eines weiteren 7. Oktober, müsste sie unermüdlich daran arbeiten, die illegale Besetzung Palästinas und die anhaltende genozidale Militärkampagne in Gaza zu beenden. Berlin könnte sogar helfen, die verbliebenen israelischen Geiseln von ihrem schrecklichen Schicksal zu befreien, indem es Netanjahu unter Druck setzt, zielführende Verhandlungen mit der Hamas über eine Geiselfreilassung, eine Waffenruhe und den humanitären Zugang wieder aufzunehmen – Verhandlungen, die Netanjahu im März abbrach, um sein eigenes politisches Überleben zu sichern, als er von den offen rassistischen, rechtsextremen Parteien seiner Koalition unter Druck gesetzt wurde.

Deutschland ist leider nicht das einzige EU-Mitglied, das sich in beschämender Weise durch fehlendes Engagement und Handeln auszeichnet. Italien hat sich unter Melonis rechtsextremer Regierung zu einem Sprachrohr der israelischen Kriegsnarrative entwickelt. Ungarn und die Tschechische Republik, seit Langem loyal gegenüber nationalistischen, autoritären Regimen, haben den EU-Konsens zu Palästina bislang konsequent blockiert.

Diese Regierungen handeln nicht im Interesse eines Friedens zwischen Israel und Palästina. Sie untergraben die europäische Einheit, beschädigen die globale Glaubwürdigkeit und die Partnerschaften der EU. Damit sind sie nicht nur mitschuldig an der Verlängerung des Leids von Millionen Palästinensern, sondern gefährden auch die Sicherheit Israels.

Die Untätigkeit der Europäischen Union ist nicht nur ein grober strategischer Fehler, sie ist ebenfalls ein entsetzliches moralisches Versagen. Das Zaudern der EU ermöglicht Israels Straflosigkeit und verfestigt einen Konflikt, der noch über Generationen Instabilität, Radikalisierung und Verzweiflung im Nahen Osten nähren wird.

Die Palästinenser verdienen Freiheit, Würde und Selbstbestimmung. Die Israelis verdienen Frieden und Sicherheit innerhalb international anerkannter Grenzen. Beide Völker brauchen Führungspersonen – und internationale Partner –, die keine Mühe scheuen, für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten, nicht für eine dauerhafte Besatzung und einen niemals endenden Kreislauf der Gewalt.