Er war zwischenzeitlich gut zwei Meter lang und dennoch hat ihn bis heute niemand gesehen. Seit Jahren lebt ein Borstenwurm im Riesenaquarium in Karlsruhe gut versteckt. Jetzt sollen ihm Kameras auflauern.
In einem riesigen Aquarium im Museum für Naturkunde Karlsruhe lebt seit zehn Jahren ein Borstenwurm wie ein Phantom. Er hinterlässt zwar Spuren, seinen Kopf hat bis heute noch niemand gesehen. Jetzt machten sich Wissenschaftsjournalisten und Forschende gemeinsam mit Kameras auf die Suche nach dem Wurm.
„Ich habe ihn zwei Mal ganz kurz gesehen in all den Jahren“, sagt Hannes Kirchhauser. Er leitet das Vivarium im Staatlichen Museum für Naturkunde in Karlsruhe. Der Biologe hat das Aquarium vor rund zehn Jahren aufgebaut. Seitdem muss er mit ansehen, wie das unbekannte Wesen immer wieder nachts seine mühsam gezüchteten Korallen anknabbert.
Der Biologe Kirchhauser leitet das Vivarium im Staatlichen Museum für Naturkunde in Karlsruhe.
Eine neue Art?
In diesem Frühjahr fischte der Biologe ein etwa 1,5 Meter langes und mehr als zwei Zentimeter dickes Borstenwurmstück aus dem Aquarium. Die roten Kiemen bewegten sich noch. Hannes Kirchhauser dachte zuerst, er hätte das Phantom endlich gefangen.
Was er noch nicht wusste: Der Borstenwurm hatte ihn schon wieder ausgetrickst. „Der Kopf fehlt oder sogar ein Stück Körper. Wir werden jetzt das Aquarium beobachten, ob es weitere Fraßspuren gibt“, sagte Kirchhauser nach der Entdeckung. Und er musste nicht lange warten. Schon kurz danach gab es ein Lebenszeichen des Borstenwurms. Er biss in Korallen und baute Schleimröhren. Die Röhren helfen den Würmern unter anderem, sich zu verstecken. In Flagranti konnte der Biologe das Phantom aber wieder nicht erwischen.
Zu sehen ist eine Schleimröhre. Durch sie kann sich der Wurm gut verstecken und so lange unendeckt bleiben.
DNA-Untersuchungen bringen kein eindeutiges Ergebnis
Die DNA-Untersuchungen des Wurmstücks ergaben bisher nur, dass es sich bei dem Tier um einen Verwandten des Bobbitwurms aus dem Pazifik handeln muss. Eindeutig identifizieren ließ sich das gefundene Wurmstück allerdings nicht.
Die Mitarbeiter im Museum für Naturkunde in Karlsruhe nennen ihn auch deshalb „Phantom“, weil sie das Tier ohne den Kopf nicht bestimmen können. Es könnte sich bei dem Borstenwurm in Karlsruhe sogar um eine neu entdeckte Art handeln, vermutet der Direktor des Staatlichen Museums für Naturkunde Karlsruhe, Martin Husemann: „Es ist natürlich sehr spannend, weil es potenziell eine neue Art sein könnte und man relativ wenig von diesen großen Tieren wirklich auch in Sammlungen hat.“
Ein Biss an einer Koralle: Der Wurm verrrät sich immer wieder durch seine Fressspuren.
Etwa 10.000 verschiedene Borstenwurmarten
Das Museum schickte Professor Markus Böggemann von der Universität Vechta ein Stück des Borstenwurms zur Untersuchung. Er kennt als Experte für Borstenwürmer mehr als 10.000 verschiedene Arten. Dazu gehören unter anderem auch Wattwürmer in der Nordsee. Viele Borstenwürmer ernähren sich wie eine Art Müllabfuhr oft von Dingen, die auf dem Boden liegen.
Bei der Fütterung im Meereswasseraquarium bekommen die Fische in Karlsruhe oft Stücke von Seelachs, Doraden und auch Garnelen und Salinenkrebse. Die Haie bekommen große Stücke vom Wolfsbarsch. Die Wissenschaftler stellten nun fest, dass die Karlsruher damit wohl auch das Phantom über die Jahre gut gefüttert haben: Böggemann fand Fischstücke und Gräten vom Wolfsbarsch in einem Stück des abgetrennten Wurmdarms.
Wurm trennte sich vom Großteil seines Körpers
Die gefährlichen Gräten konnte der Borstenwurm offenbar nur zusammen mit einem großen Teil seines Körpers loswerden. „Er hat sein Hinterende abgeschmissen. Also der Magen-Darm-Trakt hat anscheinend nicht mehr richtig funktioniert und aus diesem Grunde hat er sich dann lieber vom Rest des Körpers getrennt“, sagt Böggemann.
Aber: „Alles Entscheidende, was er braucht in seinem Magen-Darm-Trakt, Verdauungstrakt, im vorderen Teil, ist vorhanden. Und deswegen wird er wohl auch weiterhin leben. Jetzt wird er wahrscheinlich noch vielleicht 10 bis 15 Zentimeter lang mit schon regenerierendem Hinterende sein.“
ARD-Wissenschaftsredaktion unterstützt bei der Suche
Bei der Jagd nach dem nun viel kleineren Borstenwurm sollte darum die SWR-Wissenschaftsredaktion helfen. Uwe Gradwohl, Leiter der Redaktion Wissen Aktuell, und sein Team positionieren zwei Kameras vor dem Meereswasseraquarium so, dass diese alle Lieblingsstellen des Borstenwurms über Nacht im Blick haben.
„Wir haben Kameras genommen, die bei uns im Südwestrundfunk nicht so häufig im Einsatz sind, aber sich für diesen Zweck sehr eignen. Die sehr lichtempfindlichen Bildsensoren können noch allerhand rausholen aus der Dunkelheit“, erklärt der Redaktionsleiter. „Eigentlich sieht man mit dem bloßen Auge in dem Korallenriff nichts.“
Die Nachtaufnahmen aus dem Aquarium wurden direkt in das Funkhaus des SWR in Baden-Baden übertragen. Hier war Gradwohl beim ersten Blick auf die Bilder überrascht darüber, wie gut er die Korallen und die vorbeischwimmenden Haie und Rochen erkennen konnte. „Die Kameras kitzeln noch einiges raus und das ist schon wirklich ein wunderhübsches Bild. Nur der Wurm, der fehlt halt immer noch.“
Wurm wohl schon von Anfang an im Aquarium
Immerhin weiß Kirchhauser vom Museum für Naturkunde inzwischen, wie der Borstenwurm ins Aquarium nach Karlsruhe kam: Mit Lebendgestein aus Indonesien, gleich beim Aufbau des Korallenriffs vor rund zehn Jahren. Von seiner Erfahrung bei der Korallenzucht profitieren die Aquarianer anderer großer Schauaquarien und auch Coral-Gardening-Projekte. „Wir züchten Korallen genau wie sie und das kann man dann alles als sehr schön rüber transferieren in solche Projekte“, sagt er.
Vier Nächte beobachten die Kameras das Aquarium
Vier Nächte haben die Kameras das Meereswasseraquarium in Karlsruhe beobachtet. Insgesamt haben Uwe Gradwohl und das Team der ARD-Wissenschaftsredaktion mehr als 70 Stunden Material gesichtet. Vor der Linse schwammen Haie, Rochen und viele kleine Fische. „Viel Material, leider extrem wenig Wurm, also weder einen langen noch den kürzeren Wurm. Wir haben bislang nichts gesehen“, sagt Uwe Gradwohl.
Das Team der SWR-Wissenschaftsredaktion baut die Kameras erst einmal wieder ab. Und das Phantom im Karlsruher Naturkundemuseum hat anscheinend genau darauf gewartet.
Die Kameras sind weg – das Phantom ist wieder da
Denn schon bei einem seiner nächsten Tauchgänge findet Hannes Kirchhauser neue Wurmspuren. Der Borstenwurm baute Schleimröhren genau dort, wo die Beobachtungskameras vorher standen. Und er hat auch noch immer Hunger auf Korallen. Das beweisen neue Bisspuren.
Wieder Fraßspuren: Der Wurm bedient sich weiter an den gezüchteten Korallen.
Das Phantom macht es der Wissenschaft nicht leicht. Die Suche geht weiter, sagt Uwe Gradwohl. Und auch Hannes Kirchhauser will noch nicht aufgeben. Er geht Ende des Sommers in den Ruhestand. Bis dahin will er das Phantom in seinem Korallenriff wenigstens ein einziges Mal gesehen haben.
Ab 20 Uhr: Livestream zum Mitsuchen
Nachts im Aquarium: Am Donnerstag, den 14. August, streamt der SWR ab 20 Uhr live aus dem Aquarium in Karlsruhe. Bis 6 Uhr morgens kann jede und jeder den Borstenwurm mitsuchen. Auch zu entdecken sind: die Riff-Haie Amadeus und Karla, der Blaupunktrochen, die nachtaktiven Soldatenfische und der verschlafene Doktorfisch.