Immer weniger Kinder fahren am Ende der Grundschulzeit sicher Rad – und fallen darum durch die Prüfung in der vierten Klasse. Was Eltern wissen sollten und wie sie gegensteuern können.

Es gib viele Gründe, warum Eltern jetzt mit ihren Kindern Rad fahren sollten. Der Sommer animiert zu Aktivitäten im Freien, die Ferien bieten Gelegenheit für Familienausflüge – und im Herbst beginnt an den Schulen in Baden-Württemberg wieder die Radfahrausbildung in den vierten Klassen. Allein in der Landeshauptstadt nehmen daran jedes Jahr etwa 5000 Schülerinnen und Schüler teil, um ihren Radfahrführerschein zu machen. Doch nach Angaben der Stuttgarter Polizei schaffen zehn bis 15 Prozent von ihnen die Prüfung nicht.

Das mag verwundern, überwiegt doch der Eindruck, dass die Kinder viel früher mit dem Fahrradfahren beginnen und sogar die ganz Kleinen schon sicher mit dem Drahtesel unterwegs sind. „Wir sehen durchaus Grundschüler, die im sportlichen Sinne sehr gute Fahrradfahrer sind, da sie mit ihren sportlichen Eltern mithalten müssen“, sagt Burkhard Metzger. Er ist der Präsident der Landesverkehrswacht Baden-Württemberg und ergänzt: „Bei der Radfahrausbildung kommt es jedoch nicht nur auf das sichere Fahren an, die Kinder müssen auch das sichere Verhalten im Straßenverkehr auf dem Rad umsetzen können“, also zum Beispiel vor dem Abbiegen ein Handzeichen geben und den Schulterblick machen.

Erschwerend komme hinzu, dass sich heute viele Kinder – wenn sie nicht gerade sportliche Eltern haben – weniger bewegen. „Das belegen alle Studien und Befragungen“, sagt Burkhard Metzger. Dabei gelte: „Je mehr sich ein Kind bewegt, umso mehr bildet es Fähigkeiten heraus, die auch für das sichere Radfahren wichtig sind.“

Eltern müssen mit ihren Kindern immer wieder üben

Wirklich sicher Fahrrad fahren, das können am Ende ihrer Grundschulzeit tendenziell immer weniger Kinder, sagt auch Thomas Schneider, der stellvertretende Leiter des Referats Prävention bei der Stuttgarter Polizei, und ergänzt: „Das liegt in erster Linie am Elternhaus. Wenn Eltern nicht mit ihrem Kind aktiv üben, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Kinder mit Beginn der Jugendverkehrsschule noch nicht Fahrradfahren können.“

Und die in der vierten Klasse obligatorische Radfahrausbildung mit gerade einmal vier Übungseinheiten reicht in der Regel nicht aus, um es zu lernen. Das wiederum liege nicht nur an mangelnden Vorkenntnissen und motorischen Fähigkeiten, sondern auch an schlechter werdenden kognitiven Fähigkeiten. „Es fällt zunehmend auf, dass die Aufmerksamkeit nachlässt und Schwierigkeiten beim Zuhören bestehen. Auch kurz zuvor Besprochenes direkt umzusetzen, stellt leider für immer mehr Kinder eine Hürde dar, obwohl die Lerninhalte kindgerecht vermittelt wurden.“ Das beobachtet Thomas Schneider bei den praktischen Radfahrausbildungen immer wieder.

Es braucht seine Zeit, bis Kinder sicher mit dem Fahrrad unterwegs sind

Hinzu kommt aber auch, dass Fahrrad fahren lernen gar nicht so leicht ist. Denn es sei eine schrittweise Entwicklung, sagt Thomas Schneider. Darum sollten am besten schon Kleinkinder auf einem Roller oder einem Laufrad erste Erfahrungen mit der Bewegung auf Rädern machen. Das schule den Gleichgewichtssinn.

Das Auf- und Absteigen, das Kurvenfahren und das Anhalten mit dem Fahrrad müssen Eltern mit ihren Kindern üben, sagt Burkhard Metzger von der Landesverkehrswacht. Foto: Landesverkehrswacht Baden-Württemberg

Das richtige Verhalten im Straßenverkehr üben sie am besten dort, wo sie täglich unterwegs sind und sich auskennen. „Nirgendwo machen sie so viele nützliche Erfahrungen wie bei Ausflügen in der näheren Wohnumgebung. Sie lernen die Situationen kennen, die für ihre Verkehrsteilnahme mit dem Roller, Laufrad und anschließend dem Fahrrad wichtig sind“, sagt Thomas Schneider. Auf dem Fahrrad sollten Eltern mit ihren Kindern vor allem das Kurvenfahren, das Anhalten bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten, das sichere Auf- und Absteigen und das Einhalten von Abständen zu anderen Fahrzeugen oder zum Bordstein üben, ergänzt Burkhard Metzger.

Manches können Kinder erst ab einem gewissen Alter

Allerdings sollten Eltern ihr Kind nicht überfordern. Denn manche Dinge können die Kleinen erst ab einem gewissen Alter. Thomas Schneider nennt einige wichtige Punkte, die Erwachsene wissen sollten:

  • Kinder sehen wie durch Scheuklappen, die Blickwinkel sind enger als die von Erwachsenen.
  • Erst mit etwa acht Jahren können Kinder beim Fahren auch in andere Richtungen als nur in Fahrtrichtung blicken. Und erst ab diesem Alter sind sie in der Lage, eine Gefahr früh genug zu erkennen, um noch darauf reagieren zu können.
  • Erst mit neun Jahren entwickeln Kinder ein Bewusstsein für Positionen und Perspektiven und fangen an, Entfernungen und Geschwindigkeiten einigermaßen realistisch einzuschätzen.
  • Erst mit neun oder zehn Jahren können Kinder eine Situation so weit voraussehen, dass durch ihr Handeln eine mögliche Gefahr gar nicht eintritt.
  • Mit elf Jahren beginnen Kinder, sich auch nach hinten zu orientieren.
  • Kinder bis 14 reagieren langsamer als Erwachsene auf das, was sie sehen und hören.

Am Ende ihrer Grundschulzeit verfügen Kinder in der Regel über genügend Fähigkeiten, um mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilzunehmen, sagt Thomas Schneider. Doch auch dann fehle ihnen noch die nötige Erfahrung, besonders bei Mehrfachanforderungen seien sie schnell überfordert. Wer die Radfahrausbildung in der vierten Klasse besteht, erhält zur Belohnung den Fahrradführerschein. Dieser sei aber kein Freifahrschein, betont Thomas Schneider, eher gehe es darum, die Kinder zu motivieren.

Eltern sollten sich genau anschauen, wo ihre Kinder bei der Prüfung Fehler gemacht haben. Dies auch vor dem Hintergrund, dass das Niveau gesunken ist. Mit dem Schuljahr 2024/25 wurde die Fehlerzahl, ab der man die Prüfung nicht besteht, von 10 auf 15 Fehlerpunkte erhöht. „Damit nicht so viele Kinder durchfallen“, sagt Thomas Schneider, schließlich wolle man die Mädchen und Jungen auch nicht demotivieren.

Wer dennoch durchfällt, bekommt einen Gutschein für eine Nachschulung. Das Polizeipräsidium Stuttgart bietet in den Sommer-, Herbst-, Oster- und Pfingstferien kostenlose Nachholkurse in der Jugendverkehrsschule am Westbahnhof an.

Radfahrtraining in der fünften und sechsten Klasse

Burkhard Metzger betont ebenfalls, dass auch wer seinen Fahrradführerschein am Ende der Grundschulzeit hat, noch lange kein sicherer Radfahrer ist. „Die Zahlen der Unfallforschung der Versicherer zeigen, dass fast jeder zweite Jugendliche zwischen zehn und 15 Jahren – also offiziell nach der Radfahrausbildung – mit dem Rad im Straßenverkehr verunglückt“, sagt er. Die Radfahrausbildung in der Grundschule allein reiche also nicht aus. Deswegen erprobe die Verkehrswacht derzeit an acht Modellschulen in Baden-Württemberg, wie das Radfahrtraining in der fünften und sechsten Klasse in den Schulunterricht integriert werden könne. Das sind die Modellschulen:

  • Waldschule Bietigheim-Bissingen
  • Marion-Dönhoff Realschule, Brühl
  • Eichendorff-Gymnasium, Ettlingen
  • Graf-Soden-Gemeinschaftsschule, Friedrichshafen
  • Realschule Neureut, Karlsruhe
  • Gemeinschaftsschule Rheinfelden
  • Gemeinschaftsschule Friedensschule, Schwäbisch-Gmünd
  • Realschule im Bildungszentrum Wühle, Weilheim an der Teck

Die Mädchen und Jungen treten im Rahmen des Sportunterrichts in die Pedale, üben das Spurhalten, oder sie messen ihr Können im Radbiathlon. Das Ziel ist es, die Fähigkeiten zu stärken, die für eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr wichtig sind. Das Pilotprojekt ist eine Kooperation mit dem Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg sowie dem Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung, wird finanziell unterstützt von der Wiedeking-Stiftung und evaluiert von der Unfallforschung der Versicherer.

Radfahrausbildung

Theorie und Praxis
Die Radfahrausbildung ist in der vierten Klasse an staatlichen und privaten Grundschulen sowie in der fünften Klasse an sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren eine verpflichtende schulische Veranstaltung. Die Theorie wird in aller Regel im Sachkundeunterricht von den Lehrkräften gelehrt. Für die Prüfung üben können die Kinder im digitalen Radfahrportal der Verkehrswacht. Die praktische Ausbildung findet in den Jugendverkehrsschulen der Verkehrswacht und teilweise auf öffentlichen Straßen statt. Sie wird von besonders geschulten Polizeibeamtinnen und -beamten unter Mitwirkung der Lehrkräfte durchgeführt.

Nachholkurse
Das Polizeipräsidium Stuttgart bietet auch in diesen Sommerferien kostenlose Nachholkurse in der Jugendverkehrsschule am Westbahnhof, Unter dem Birkenkopf 30, an. Eine Anmeldung erfolgt beim Referat Prävention telefonisch unter 0711/8990-1200. In dem Kurs in der vorletzten Ferienwoche der Sommerferien, 1. bis 4. September, sind noch Plätze frei.