Angesichts all des Leides und des Hasses, den der Krieg in Nahost mit sich bringt, erscheint es unfassbar, dass es dieses Orchester noch gibt. Dass junge israelische, arabische und iranische Musikerinnen und Musiker weiterhin zusammen auftreten und dass der Gründerleiter Daniel Barenboim, von schwerer Krankheit soweit genesen seine sichtliche Gebrechlichkeit für seine Friedensmission überwindet, mutet heroisch an.

Langsam trat der 82 Jahre alte Maestro, der das West-Eastern Divan Orchestra 1999 mit Weggefährten ins Leben rief, nun beim Rheingau Musik Festival im ausverkauften Thiersch-Saal des Wiesbadener Kurhaus ans Pult und lud sogleich die Musik eines Komponisten, dessen Werke in Israel bis heute boykottiert werden, mit sanftem Geist auf. Unter Barenboims minimalistischen Dirigierbewegungen bekam das „Siegfried-Idyll“, das Richard Wagner 1870 als Geburtstagsgruß für seine Frau Cosima schrieb, in weiten Bögen den zarten Charakter einer Liebesmusik.

Dass Wagner vielen Juden als Inbegriff des deutschen Antisemitismus gilt, hinderte Barenboim 2001 nicht, als erster in Israel Musik des Komponisten aufzuführen. Er erntete dafür scharfe Kritik, aber auch Anerkennung für seinen Mut. Dass Zusammenhänge oft komplexer sind als sie auf den ersten Blick scheinen, zeigte Barenboim auch an diesem Abend mit dem Programm. So schloss sich das Klavierkonzert Nr. 1 g-Moll op. 25 von Felix Mendelssohn Bartholdy an, den Wagner in seiner Schrift „Das Judenthum in der Musik“ in Verruf zu bringen versuchte. Was Mendelssohn und Wagner aber unter anderem verbindet, ist das gemeinsame Vorbild Beethoven.

Feine Kommunikation

Die Beethoven-Nähe des von Mendelssohn mit 21 Jahren komponierten Klavierkonzerts machte der Starsolist des Abends gleich mit energischem Zugriff in seinen ersten Passagen deutlich. Lang Lang gab dem in herbem Moll-Charakter anhebenden Werk überall einen exakt passenden Duktus. Er zeigte, wie tief Mendelssohn in der deutschen Musiktradition wurzelt und wie eigenständig er sie fortführt. Die lyrischen Abschnitte erklangen so unter den Händen des für seine hohe Anschlagskultur bekannten chinesischen Pianisten originär wie Mendelssohnsche „Lieder ohne Worte“.

Zugleich entstand eine feine Kommunikation mit dem Orchester, so dass der Attacca-Anschluss des langsamen Satzes völlig stringent entwickelt schien. Den schlichten „Volkston“, wie die Romantiker gesagt hätten, traf Lang Lang mit seinen feinen Piano-Nuancen optimal. Der Bezug zu Beethoven wurde natürlich im Finale mit dem Klopfmotiv nach Art der fünften Sinfonie des Titanen am deutlichsten.

Doch auch dort kam dank des perfekten Leggiero-Spiels des Solisten bald die Mendelssohn so eigene Leichtigkeit hinzu. Überschwänglich und spielerisch wirkte sie, wie eine Vorform des „Balletts der Küken in ihren Eierschalen“. Dieser apollonisch-heitere Geist, der Mendelssohn wiederum auch als Klassizisten ausweist, liegt Lang Lang ganz besonders. Seine in anderer romantisch-klassizistischer Art verspielte Zugabe war eine kleine Mazurka von Chopin.

Der Anblick Barenboims bei seinen beschwerlichen Auf- und Abtritten fügte sich zum musikalischen Impetus des Mendelssohn-Finales nicht, in gewissen Sinne aber zu seiner Lesart der Sinfonie Nr. 3 Es-Dur op. 55 von Beethoven. Die „Eroica“ wurde so, sicher nicht aus Barenboims eigener Perspektive, wohl aber doch für viele Hörer zum Sinnbild des heroischen Einsatzes eines Dirigenten in einer immer erdrückender werdenden Weltsituation. Wachsender Nationalismus, Kriegsgefahren, Autokraten: Man dachte an das Jahr 1804, als Beethoven enttäuscht den Namen des ursprünglich gedachten Widmungs- und Hoffnungsträgers Bonaparte nach dessen Kaiserkrönung ausradierte. Barenboim wählte die Tempi für seine Interpretation nun durchgehend langsam. Gewichtig klang das, thematisch analytisch klar, im Trauermarsch so wie sich Hinterbliebene in einem Kondukt weiterschleppen. Das Finale („Allegro molto“) kam in dieser verlangsamten Art an den Rand des Tragfähigen. Aber es ging weiter. Die Idee des Guten in der Welt, wie sie Barenboim verkörpert, kommt hoffentlich nie zum Stillstand.

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