Es ist ein warmer Sommermorgen, doch über dem Innenhof der Synagoge in Halle liegt eine spürbare Schwere. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) steht vor dem Mahnmal, das an den antisemitischen Terroranschlag vom 9. Oktober 2019 erinnert. Die ehemalige Tür der Synagoge, einst Ziel eines tödlichen Anschlagsversuchs durch den rechtsextremen Täter Stephan Balliet, steht nun eingerahmt von schützenden, künstlichen Ästen – ein stilles Denkmal, das Erinnerung, Wunden und Widerstand zugleich symbolisiert. „Das muss ein Mahnmal für uns alle sein“, sagt Dobrindt sichtlich bewegt. Wenige Minuten später verlässt er das Gelände, doch der Eindruck des Ortes wird ihn auf seiner Sommertour weiter begleiten.
Die jüdische Gemeinde Halle: Ort des Gesprächs und der Klarstellung
Der Besuch des Ministers beginnt im Gemeindezentrum, wo er mit dem Vorsitzenden Max Privorozki und weiteren Vertretern der jüdischen Gemeinde zusammenkommt. Die Gespräche sind offen, intensiv – und politisch brisant.
Privorozki spart nicht mit Kritik. Zwar lobt er die enge Zusammenarbeit mit der Polizei, spricht von einer „gut funktionierenden Kooperation“, doch zugleich mahnt er: „Sicherheitsmaßnahmen sind kein Heilmittel, sondern ein Schmerzmittel.“ Es sei tragisch, dass sie überhaupt nötig seien. Noch deutlicher wird er in Bezug auf die Außenpolitik der Bundesregierung. Die Entscheidung von Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), Waffenlieferungen an Israel einzuschränken, nennt er einen Fehler: „Ich war fast erschlagen, als ich davon hörte.“ Ein solcher Schritt sende ein fatales Signal, vor allem angesichts der weiterhin akuten Bedrohung durch die Hamas. „Diese Entscheidung dürfte die Hamas mit Freude aufgenommen haben.“
Privorozki wendet sich auch gegen die in Europa populäre Zwei-Staaten-Lösung, wie sie etwa der französische Präsident Emmanuel Macron fordert. Ebenso kritisiert er die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien in Deutschland, in denen aus seiner Sicht immer wieder „Falschinformationen, die von der Hamas stammen“, unkritisch verbreitet würden.
Innenminister Dobrindt: Klare Haltung gegen Antisemitismus und importierten Judenhass
Dobrindt, dessen Reise bewusst mit dem Besuch jüdischen Lebens in Halle beginnt, bezieht klar Stellung: „Wir stehen fest an der Seite Israels und jüdischen Lebens in Deutschland. Das ist Staatsräson.“
Er betont, dass neben dem rechtsextremen Antisemitismus zunehmend ein anderes Phänomen problematisch werde: der sogenannte importierte Antisemitismus. „Solche Leute sind in Deutschland nicht willkommen und sollten das Land verlassen“, sagt er mit Blick auf extremistische Einflüsse aus dem Ausland – eine Aussage, die Applaus, aber auch Kritik auslösen dürfte. Dobrindts Tonfall ist unmissverständlich. Er warnt davor, sich den Narrativen der Hamas hinzugeben. Frieden könne es nicht geben, solange diese Organisation die militärische Kontrolle über den Gazastreifen habe. Die jüngste Anerkennung Palästinas durch Präsident Macron hält Dobrindt daher für das „völlig falsche Signal“. Es sei Wasser auf die Mühlen der Hamas.
Ministerpräsident Haseloff: Halle als Symbol für politische Konsequenz
Auch Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) begleitet den Besuch. Er verweist auf eine Besonderheit seines Bundeslands: „Nur bei uns gehört das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels zur Einbürgerung.“ Ein klarer politischer Marker, den Haseloff als Vorbild für andere Bundesländer sieht. Er kritisiert, dass in der aktuellen Debatte zu oft die Täter-Narrative dominieren und die Hamas als ursächlicher Aggressor zu wenig benannt werde. „Ohne die Entmachtung der Hamas gibt es keine Option für Frieden“, stimmt Dobrindt ihm zu.
Erinnerung mit bitterem Nachhall
Der Anschlag von Halle 2019 hatte bundesweit für Entsetzen gesorgt. Ein schwer bewaffneter Rechtsextremist scheiterte an der gesicherten Tür der Synagoge, tötete daraufhin eine Passantin und einen jungen Mann in einem nahegelegenen Imbiss. Seine lebenslange Haftstrafe hinderte ihn nicht daran, später mit einer selbstgebauten Waffe aus dem Gefängnis zu fliehen und einen Beamten zu bedrohen – ein sicherheitspolitischer Skandal, der viele Fragen offenließ.
Der Anschlag führte zu massiven Sicherheitsmaßnahmen, die bis heute andauern. Die Synagoge wurde mit Panzerglas gesichert, was wiederum neue Probleme mit sich brachte: Die baulichen Veränderungen verschlechtern die Luftzirkulation, weshalb derzeit erneut gebaut wird – diesmal an einer Klimaanlage. Innenminister Dobrindt steht während seines Besuchs zwischen Baugerüsten, hinter Plastikplanen. Ein Symbol dafür, wie komplex der Schutz jüdischen Lebens ist – und wie unvollendet.
Journalistin Sarah Maria Sander: Mahnende Worte über jüdische Realität in Deutschland
Begleitet wurde der Besuch auch von der jüdischen Journalistin Sarah Maria Sander. Ihre Analyse ist eindringlich: „Seit dem 7. Oktober 2023 haben Juden in Deutschland die Leichtigkeit verloren, jüdisch zu sein.“ Das Massaker der Hamas sei das schwerste Verbrechen an jüdischem Leben seit der Shoa gewesen – eine historische Zäsur, die in der deutschen Gesellschaft ihrer Meinung nach nicht ausreichend wahrgenommen werde.
Sander kritisiert die Bundesregierung dafür, zu wenig für das gegenwärtige jüdische Leben zu tun: „Man gibt sich große Mühe, der toten Juden zu gedenken – aber vergisst dabei die lebenden.“ Die wachsende Unsicherheit habe viele Juden dazu veranlasst, über Auswanderung nachzudenken. Sie fordert von der Politik, sich dem europäischen Druck zur Anerkennung Palästinas nicht zu beugen. „Solange deutsche Staatsbürger in Geiselhaft der Hamas sind, ist eine Anerkennung Palästinas ein Schlag ins Gesicht der jüdischen Gemeinschaft.“
Halles Oberbürgermeister Vogt: Der Blick auf das Lokale
Auch Halles Oberbürgermeister Dr. Alexander Vogt nutzt die Gelegenheit zum Gespräch. Im Fokus seiner Botschaften stehen die Herausforderungen der Kommunalpolitik: „Wir haben uns unter anderem zu den Themen Kommunalfinanzen und Sicherheit austauschen können. Meine Botschaft an den Bund adressiert: Die kommunale Handlungsfähigkeit darf nicht gefährdet werden. Die Kommunen sind der unmittelbare Ansprechpartner für die Menschen vor Ort, sie gestalten Infrastruktur, Bildung, soziale Daseinsvorsorge und leisten damit einen erheblichen Beitrag zur Stabilität unserer Gesellschaft. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen das Vertrauen in einen funktionierenden Staat nicht verlieren.“ Vogt begrüßte den Besuch des Ministers und wünschte sich eine Wiederholung. Es sei wichtig, dass auch Bundespolitiker sich unmittelbar vor Ort von der Lage der Menschen ein Bild machen.