Die europäische Wirtschaft muss wettbewerbsfähig werden. Die Finanzwirtschaft ermöglicht ihr dafür den Zugang zu Kapital. In einem freien Markt können Finanzinstitute natürlich auch im Eigeninteresse spekulieren – mit gegebenenfalls verheerenden Folgen. In der Finanzkrise haben sowohl die Banken als auch die öffentliche Hand viel Lehrgeld bezahlt, weil sie an diese Folgen zuwenig gedacht hatten.

Allerdings: Das Regelwerk, das einst als Schutzmechanismus gegen zukünftige Krisen eingeführt wurde, hat sich mit den Jahren zu einem komplexen Geflecht entwickelt, das mittlerweile kaum noch zu steuern ist. Damit ist nicht nur der Beitrag der Finanzregulierung zu mehr Sicherheit fraglich. In ihrer Detailtiefe und Unübersichtlichkeit gefährdet sie vielmehr selbst die Wettbewerbsfähigkeit der EU. Ein aktuelles Policy-Paper des Frankfurt Competence Centre for German and Global Regulation (FCCR) legt einige der Defizite offen und plädiert für eine Kurskorrektur.

Die Diagnose ist eindeutig: Die Finanzregulierer setzen zu wenige Prioritäten, sondern versuchen, „allen alles zu bieten“. In einer ständig komplexer und vernetzter werdenden Welt müssen sie damit scheitern. Außerdem fehlt es in ihrer Regulierungsarchitektur an Abstufungen, die dem Verhältnismäßigkeitsgedanken gerecht werden. Die ursprüngliche Idee auf EU-Ebene war, dass der Gesetzgeber selbst „wesentliche“ Vorgaben macht (Stufe 1), die auf nachgelagerter Ebene durch technische Durchführungsregeln (Stufe 2) und flexible Leitlinien der Behörden für ihre eigene Rechtsanwendung (Stufe 3; sogenanntes Soft Law) ergänzt werden. Stattdessen werden die Regelungen auf allen Ebenen als „hartes“ Recht durchgesetzt. Es kommt zu Überregulierung und zur strukturellen Überforderung – für kleinere Marktteilnehmer, jedoch auch für die Großen der Finanzindustrie.

Verlässliche Basis für die Finanzmittelversorgung

Das FCCR-Papier formuliert sieben konkrete Maximen, die auf der ursprüng­lichen Konzeption des angesprochenen dreistufigen Lamfalussy-Prozesses aufbauen. Dieser Prozess, benannt nach dem ehemaligen Vorsitzenden des EU-Währungsausschusses, sollte einst für mehr Ef­fizienz und Transparenz in der Finanzmarktregulierung sorgen. Die EU-Regulierung sollte eine verlässliche Basis für die Versorgung der Wirtschaft mit Finanzmitteln sein, Aufsichtsverfahren vereinfachen und einen integrierten Finanzmarkt schaffen. Die Autoren des FCCR-Papiers sehen hierin auch einen Schlüssel, damit die Finanzwirtschaft zukünftig einen Beitrag zur europäischen Wettbewerbsfähigkeit leisten kann. Im Einzelnen:

1. Die EU verfügt über ein eigenes Ins­trumentarium zur Qualitätssicherung von Gesetzgebung: die Leitlinien für „Bessere Rechtsetzung“. Diese Regeln werden bisher ignoriert, und neue Vorschriften ohne belastbare Folgenabschätzung entwickelt. Die Leitlinien müssen verbindlich werden. Das gilt sowohl bei der Ausarbeitung neuer Vorschläge als auch bei der Evaluierung bestehender Regelungen.

2. Die dreistufige Architektur von Rahmengesetzen, technischen Durchführungsmaßnahmen und behördlichen Leitlinien darf nicht infolge von Selbster­mächtigungen immer weiter verschwim­men, sondern muss wieder deutlich wer­den. Die Europäische Zentralbank erlässt – etwa mit Blick auf eigenmittelrelevante Risiken – Leitlinien ohne formelles Mandat, die dennoch faktisch verbindlich wirken. Die aktuell diskutierte Omnibus-Gesetzgebung wird diese EZB-Vorgaben nicht beseitigen. Die europäischen Aufsichtsbehörden (ESAs) formulieren Standards, die über ihren eigentlichen Auftrag hinausgehen und die nicht nur die ESAs selbst, sondern auch die mitgliedstaat­lichen Behörden und sogar die Marktteilnehmer binden sollen. Derartige Selbstermächtigungen auf Ebene der Vollzugsbehörden führen zu einer Kumulation von Anforderungen, die für sich genommen weder transparent noch demokratisch legitimiert sind.

3. Die Finanzmärkte sind dynamisch. Anstelle der derzeit übermäßig detaillierten und damit starren Regelwerke. Wir plädieren für einen prinzipienbasierten Ansatz: Nur auf Stufe eins sollten feste Vorgaben gemacht werden, die sich aber auf allgemeine Grundsätze beschränken. Stufe zwei sollte technische Details regeln – und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowohl mit Blick auf die Größe regulierter Institute als auch mit Blick auf Marktveränderungen Rechnung tragen. Ein Beispiel für die derzeit fehlende Flexibilität ist abermals die Eigenmittelregulierung. Zwar sieht Stufe eins vereinfachte Anforderungen für kleine und nicht komplexe Institute vor. Doch dann werden diese Institute auf Stufe zwei und drei mit denselben Berichtspflichten und Offenlegungsanforderungen konfrontiert wie Großbanken. Ein unverhältnismäßiger Aufwand ohne erkennbaren Nutzen.

Ein weiteres Beispiel ist die Retail-Investment-Strategie der EU, die Markt­regeln für anlagebezogene Dienstleistungen und den Vertrieb von Versicherungen, Fonds und Kleinanlegerprodukte umfasst. Die regulatorisch verlangten Kategorisierungen von Kunden führen zu übermäßiger Standardisierung, die dann am Markt vorbeigeht. Ein pauschales Verbot der Gewährung von Vertriebsanreizen kann für Kunden ungünstiger sein, als wenn die Anreize im Vertrieb transparent gemacht werden.

Der Alleingang der EU trägt zur Verwirrung bei

4. Globale Fragen gehören auf die globale Ebene. Die EU versteht sich als Vorreiterin in der nachhaltigen Finanzwirtschaft. Doch ihr Alleingang mit Berichtspflichten trägt mehr zur Verwirrung bei als zum Fortschritt. Ein Beispiel hierfür ist die doppelte Offen­legungspflicht für Finanzunternehmen: Diese müssen Nachhaltigkeitsdaten sowohl auf Unternehmens- als auch auf Produktebene berichten. Die Aussagekraft der sogenannten Green Asset Ratio hängt zudem stark von der Datenverfügbarkeit in einzelnen Sektoren ab. Die vermeintliche „Vorreiterrolle“ der EU führt in Wirklichkeit zu schweren Wettbewerbsnachteilen für in Europa berichtspflich­tige Akteure.

5. Der technologische Wandel stellt die Regulierung vor neue Herausforderungen. Doch für die Förderung von Innovation ist die EU-Regulierung zu rigide. Hier ist die geplante Verordnung über den Zugang zu Finanzdaten (FiDA) nicht unproblematisch. Diese Regelung soll einen Ausgleich zwischen Banken, Fintechs und Anbietern von IT-Backbone-Diensten schaffen – weit über das bisherige Open Banking hinaus. Zu der Verordnung gibt es aber weder eine klare Folgenabschätzung noch eine Definition von Daten und Kundensegmenten, die die zukünftigen Anwendungsfälle deutlich erkennbar werden lässt. Schwerer wiegt freilich, dass Finanzinstitute und IT-Dienstleister bei ihrer IT komplexe Dokumentationsanforderungen gegenüber der Bafin nach DORA erfüllen müssen, obwohl deutsche Banken oh­nehin schon der KRITIS-Aufsicht durch das BSI unterliegen. Diese Regulierung bremst Innovationen aus. Zumindest braucht es Experimentierräume – etwa in Form von regulatorischen Sandboxen –, in denen neue Geschäftsmodelle getestet werden können, bevor sie reguliert werden.

6. Eine richtige und wichtige Maßnahme auf EU-Ebene war es, die europäische Wettbewerbsfähigkeit auf die Agenda zu setzen (Draghi Report, EU Competitiveness Compass). Die EU-Finanzmarkt­regulierung konzentriert sich bislang auf Stabilität und Verbraucherschutz. Doch ohne innovationsbedingte Marktveränderungen droht Europa international den Anschluss zu verlieren. Im Vereinigten Königreich ist die Förderung von Wettbewerbsfähigkeit schon ein offizielles Ziel der Finanzaufsicht. Würde das Mandat der europäischen Aufsichtsbehörden entsprechend erweitert, hieße das nicht, andere Ziele zu vernachlässigen – wohl aber, Zielkonflikte offen zu benennen und abzuwägen. Eine Regulierung, die Wachstum systematisch ausblendet, ist politisch kurzsichtig.

7. Der aktuell von uns als Regulierungsinfarkt bezeichnete Zustand in der europäischen Finanzmarktregulierung er­fordert neben einer schlanken und prin­zipienorientierten Regulierung in der Zu­kunft auch die behördliche Bereitschaft zu „Notfallmaßnahmen“. Die in der letzten Periode des EU-Parlaments beschlossenen, nahezu 400 nachgeordneten Rechtsvorschriften können weder von den Regulierungsagenturen erarbeitet noch von den Finanzakteuren umgesetzt werden. In einigen Fragen wird das Parlament zum Erlass von Moratorien im Rahmen der aktuellen Omnibus-Verfahren genötigt sein. Aber auch die Einführung von behörd­lichen „No-Action Letters“, wie sie in den USA üblich sind, muss jetzt kommen. Diese geben Marktteilnehmern in einer turbulenten Regulierungsphase Rechtssicherheit, ohne die Autorität der Aufsicht zu untergraben. In der EU existieren solche Instrumente bislang nicht formal, obwohl sie in der Praxis bereits punktuell angewendet werden – etwa durch Aufsichtsmitteilungen oder informelle Hinweise. Eine Kodifizierung dieser Praxis könnte helfen, regulatorische Unsicherheit zu reduzieren. Auf Dauer wäre jedoch diszi­plinierte Selbstbeschränkung die bessere Antwort.

Das FCCR-Papier ist ein Appell an die politischen Entscheidungsträger: Regulierung darf kein Selbstzweck sein. Sie muss wirtschaftliche Realität abbilden, politische Ziele unterstützen und Spielräume für Entwicklung lassen. Die EU steht vor der Herausforderung, ihre Finanzmärkte nicht nur zu kontrollieren, sondern zu befähigen.

Die sieben vorgeschlagenen Reformschritte sind kein radikaler Bruch, sondern eine Rückbesinnung auf das, was gute Regulierung ausmacht: Klarheit, Verhältnismäßigkeit, Zielorientierung. Wenn Brüssel diesen Weg einschlägt, kann die EU ihre wirtschaftliche Stärke bewahren – und ihre strategische Autonomie sichern.

Roland Koch ist Management Practice Professor und Thomas Weck ist Associate Professor am Frankfurt Competence Centre for German and Global Regulation (FCCR) der Frankfurt School of Finance and Management.