Proteste in Paris 2016 gegen die Regierung von Abdel Fattah el-Sisi in Ägypten. Bild: Shutterstock.com
Während Paris Katar hofiert, wird die Angst vor islamistischen Netzwerken politisch aufgeladen – oft losgelöst von der Realität. Hintergrund.
Die französische Innenpolitik hat einen neuen gefährlichen Feind entdeckt, in Gestalt der Muslimbrüder und ihres behaupteten oder tatsächlichen Einflusses.
Was übrigens teilweise im Widerspruch dazu steht, dass die ökonomische Macht und Investitionen des Golfstaats Qatar in Frankreich – wo ihm unter anderem der Fußballverein PSG gehört – ausgesprochen willkommen sind.
Qatar als Förderer – und die überschätzte Macht der Muslimbrüder
Qatar wird zwar von keiner Partei regiert, weder von den Muslimbrüdern noch einer anderen; vielmehr sind sämtliche politische Parteien unter der dort regierenden monarchischen Herrscherfamilie verboten. In ihrer Außenpolitik tritt die Golfmonarchie, auf der Suche nach regionalem Einfluss, jedoch oft als Förderer der Muslimbrüder im Mittelmeerraum auf.
Französische Politiker und Intellektuelle verweisen darauf, die Muslimbrüder seien eine international tätige Struktur mit Ablegern in vielen Staaten, vor allem in Nordafrika und im Mittleren Osten.
Daran ist so viel richtig, dass die Muslimbrüder eine phasenweise einflussreiche politische Bewegung mit Schwerpunkt Ägypten, doch mit Ablegern in einer Reihe von anderen Ländern der Region darstellten – in Syrien etwa gewannen sie in der Vergangenheit an Einfluss, wurden durch das damalige Regime von Hafez al-Assad mit der Bombardierung der Stadt Hama 1982 brutal niederkartäscht und waren dann in der Bürgerkriegsphase ab 2011 Teil der letztendlich siegreichen Opposition.
Dennoch wäre es absolut falsch, sie als eine kaum aufzuhaltende, von Sieg zu Sieg eilende und deswegen in dämonischer Weise gefährliche Kraft darzustellen.
Ebenso falsch ist es, unter Verweis auf dschihadistische Gewalt (die nicht von den Muslimbrüdern ausgeht, sondern von anderen politisch-ideologischen Strömungen, etwa einem Teilsegment der Salafisten) zu behaupten, aufgrund gemeinsamer Ideologie bestehe ein Kontinuum, das ohne Brüche von den Muslimbrüdern über sittenkonservative muslimische Vereinsmacher in französischen Banlieues bis zu Bombenlegern reiche.
Wie radikal ummaterialistisch das ist – im Sinne der philosophischen Bedeutung des Begriffs, wonach „Materialismus“ bedeutet, die historischen, sozio-ökonomischen und politischen Bedingungen der Entstehung einer Idee oder eines Konzepts zu berücksichtigen, während das Gegenstück „Idealismus“ bedeutet, Ideen als absolut eigene, wie im luftleeren Raum entstehende Gegebenheiten zu betrachten – belegt eine vergleichende Betrachtung.
Ein riesengroßer Verlierer
Es ist (was die Muslimbrüder betrifft) absolut richtig (und notwendig), sich ihrer reaktionären Utopie entgegenzustellen und dem, was ihre Weltsicht insbesondere auch für Frauenrechte beinhaltet – denn von der Herstellung einer Form von Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum wird seitens der Muslimbrüder eine „moralische Gesundung“ der Gesellschaft erhofft.
Es sticht jedoch gleichermaßen ins Auge, dass diese politische Bewegung in jüngerer Zeit international vor allem auch einen riesengroßen Verlierer darstellt.
Vom langen Aufstieg zur schnellen Niederlage – das ägyptische Jahr der Muslimbrüder
In ihrem Ursprungsland Ägypten, wo die Bewegung 1928 entstanden ist und sich ab den fünfziger Jahren aufspaltete – eine Minderheit schlug einen Weg der dschihadistischen Gewalt ein, eine Mehrheit setzte auf den institutionellen Weg und die allmähliche Eroberung von Machtpositionen –, hatte sie über achtzig Jahre Zeit, sich auf eine Machteroberung vorzubereiten.
In dieser Zeit wurde sie durch die mit 1952 regelmäßig aus dem Militär hervorgegangenen Regierungen mal verfolgt, mal toleriert, mal als Bollwerk gegen die Kräfte auf der Linken hofiert. Zugleich gelang es den Muslimbrüdern, qualifiziertes Personal zu rekrutieren, unter der Regierungszeit von Präsident Hosni Mubarak (1981 bis 2011) gewannen ihre Vertreter etwa regelmäßig die Wahlen zu den Vertretungen von Ärzte- und Anwaltskammern.
Mit ihrer Form von politisch motivierter „Sozialarbeit“, etwa öffentlichen Suppenküchen, gewannen sie auch eine Anhängerschaft in ärmeren Gesellschaftsklassen. Dann kam die Bewegung an die politische Macht, indem sie den Elan der Veränderung infolge des Sturzes von Mubarak durch eine Massenbewegung im Februar 2011 ausnutzte – eines Sturzes durch einen Massenprotest, den sie nicht ausgelöst hatte, an den sie sich jedoch opportunistisch anzuhängen verstand, nachdem der Zug einmal rollte.
Ihr Vertreter Mohammed Mursi wurde im Juni 2012 zum Staatspräsidenten gewählt. Doch dann hielt die Bewegung, die über eine Massenbasis verfügte und sich Jahrzehnte lang auf die Macht hatte vorbereiten können, sich kaum ein Jahr an derselben.
Nach zwölf Monaten begann im Juni 2013 die – seitens der mächtigen Armee im Land unterstützte, geschürte, aber nicht von ihr allein ausgelöste – Massenbewegung zum Sturz von Präsident Morsi. Denn einerseits existierten starke Gegenkräfte zur neuen Herrschaft, andererseits aber hatte diese in kürzester Zeit einen Teil ihrer Anhänger- oder jedenfalls Wählerschaft barsch enttäuscht.
Auch wenn eine Partei sich dabei beruft, angeblich im Namen göttlichen Willens Politik zu betreiben: Die Wählerinnen und Wähler wollen im Wesentlichen Ergebnisse sehen, eine konkrete Verbesserung ihrer sozialen Situation und nicht Parolen hören.
Moral statt Reformen – und der Sturz in die Bedeutungslosigkeit
Zwar hatten die Muslimbrüder eine Vision, die „soziale Gerechtigkeit“ versprach, die jedoch im Wesentlichen auf moralischer Zwangsbeglückung der Gesellschaft beruhte. Das Wort al-fassad im Arabischen ist zweideutig: Es bezeichnet die Korruption im materiellen Sinne (d.h. den Diebstahl oder die Aneignung öffentlichen Eigentums), aber auch die Korrumpierung der Sitten im Sinne eines angeblich unmoralischen Lebenswandels durch Frauenemanzipation, Geschlechtermischung, Homosexualität u.a.
Von der Durchsetzung einer verbindlichen „Moral“ von oben her versprachen die Muslimbrüder sich ein Verschwinden sozialer Probleme, da durch die Zurückdrängung der Korruption eben mehr für Alle da sei. Aber die Idee, auf diese Weise grundlegende soziale Verteilungsfragen zu lösen – vom Großgrundbesitz bis zu den Auswirkungen des Kapitalismus –, ist auf die Dauer geradezu infantil zu nennen.
Im Juli 2013 jagte die nun wieder die Macht übernehmende Armee Mursi aus dem Amt – unterstützt von Massendemonstrationen –, steckte ihn ins Gefängnis (er starb 2019 in Haft), schoss im Juli 2013 auf öffentlichen Plätzen in Kairo 600 seiner Anhänger zusammen und errichtete eine neue Diktatur unter General-Präsident Abdelfattah Al-Sissi, die bislang erbarmungsloseste.
Seitdem haften den Muslimbrüdern jedenfalls in ihrem Ursprungsland der Nimbus der historischen Verlierer an. Deswegen sollte man sie als politisch reaktionären Gegner behandeln, nicht aber dämonisieren oder für tendenziell unbesiegbar behandeln.
Vom Gazastreifen bis Nordafrika – wie der Kontext den Kurs der Muslimbrüder prägt
Auf internationaler, jedenfalls regionaler Ebene weisen die von den Muslimbrüdern inspirierten Parteien unterschiedliche Erfahrungen auf, die aber in der Mehrzahl der Fälle entweder mit ihrer Unterordnung unter stärkere gesellschaftliche Kräfte oder ihrer Niederlage endeten.
Gerne wird in Diskussionen darauf verwiesen, die palästinensische Hamas sei ein Ableger der Muslimbrüder – diese wurde als Organisation 1987/88 im Zuge der „ersten Intifada“ gegründet, als Gegengewicht zu den damals den Ton angebenden säkularen Nationalisten der PLO, nachdem die Entstehung dieses Gegengewichts zuvor vor allem im Gazastreifen unter der Hand durch die israelischen Besatzer begünstigt und gefördert worden war, um ihren damaligen Hauptfeind PLO zu schwächen.
Es trifft zu, dass der Kern der Hamas aus den schon Jahre zuvor vor allem im Gazastreifen aktiven Muslimbrüdern hervorging. Ihre heutige Gestalt als militärisch strukturierte Kampforganisation erklärt sich aber auch zuvörderst aus dem Kontext von Jahrzehnten der Massenvertreibung (die Bevölkerung des Gazastreifens besteht mehrheitlich aus 1948 aus dem späteren israelischen Kernland vertriebenen Palästinensern und ihren Nachkommen), von Besatzung, Krieg und Gewalt.
Denn in anderen Ländern der Region schlugen die dortigen, als Ableger der Muslimbrüder entstandenen und von ihnen inspirierten Parteien völlig andere Wege ein. Es ist eben nicht allein die Ideologie, die Parteien und ihre Entwicklung prägt, sondern es ist auch und vor allem ihr gesellschaftlicher Kontext.
En-Nahdha in Tunesien – Kompromisse zwischen Ideologie und Realpolitik
In Tunesien etwa beteiligte sich die 1987 gegründete, von den Muslimbrüder inspirierte Partei En-Nahdha (Wiedergeburt, Renaissance) von 2011 bis 2021 in wechselnder Konstellation an Regierungskoalitionen und ging dabei zahllose Kompromisse ein, bis hin zur jedenfalls formalen Akzeptanz der Verankerung der Gleichheit von Frauen und Männern in der 2014 verabschiedeten Verfassung.
Man muss dieser konservativen und teilweise reaktionären Partei – die auf einem Kongress 2016 erklärte, sich nicht länger als islamistisch, sondern lediglich „islamisch inspiriert“ definieren zu wollen – dabei nicht über den Weg trauen, was ihre Liebe für Frauenrechte betrifft: Sie musste es aber hinnehmen, dass sie ihre frühere Vision rechtlich nicht durchsetzen konnte.
Die weitgehende, aber nicht vollständige (es bleibt bis heute bei der Ungleichheit im Erbrecht zwischen Söhnen und Töchtern von Verstorbenen) Gleichstellung von Männern und Frauen ist in Tunesien seit dem 1957, kurz nach der Unabhängigkeit und unter der modernisierungsfreudigen Präsidentschaft von Habib Bourguiba, Gesetzeswerk festgeschrieben. Daran kam auch En-Nahdha, Ideologie hin oder her, nicht vorbei.
In dieser Phase ihres Aufrückens in die Regierung setzte übrigens auch die damalige französische Außenpolitik auf En-Nahdha als stabilisierenden Faktor, im Kontext der aufgewühlten politischen und sozialen Situation nach dem Sturz der Diktatur von Zine el-Abidine Ben Ali (Staatspräsident von 1987 bis 2011).
Frankreichs seinerzeitiger konservativer Außenminister Alain Juppé hofierte En-Nahdha in diesem Kontext 2011 als Partner.
Dies geschah weder aus Liebe zu den Nahdha-Leuten noch aus der zu Veränderungen, sondern ganz im Gegenteil aus der Hoffnung heraus, aufgrund ihrer im Kern konservativen Ideologie mögen diese Partei die anstehenden Veränderungen nach dem Ende der Ben Ali-Diktatur eindämmen.
Heute wird En-Nahdha unter der seit 2021 durch Staatspräsident Kaïs Saïed errichteten neuen Diktatur polizeilich und juristisch verfolgt, wie mehrere andere politische Parteien auch.
Marokko: Die PJD – vom Muslimbrüder-Erbe zur pragmatischen Regierungspartei und zurück in die Opposition
Weiter westlich, in Marokko, ging die von 2011 bis 2021 an der Spitze einer heterogenen Koalition regierende Partei PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) historisch ebenfalls aus dem Dunstkreis der Muslimbrüder hervor.
Jedenfalls gehörte ihr späteres Führungspersonal, darunter ihre beiden Premierminister während der zehnjährigen Regierungszeit – Abdelilah Benkirane und Saad Dine El Otmani –, in den Siebzigerjahren der „Islamischen Jugend“ an, die 1969 gegründet und stark durch die Ideologie der ägyptischen Muslimbrüder beeinflusst war.
Diese wurde im Dezember 1975 verboten, nachdem ihr zugehörige Islamisten den linken Gewerkschafter Omar Benjelloun ermordet hatten. Danach vollzog eine Mehrheit der Organisation einen mäßigenden Kurswechsel.
In die Regierungszeit des PJD fällt die Unterzeichnung eines – durch die damalige US-Administration Trump vermittelten – bilateralen Abkommens mit Israel von Ende 2020 sowie die Legalisierung von Cannabis.
Das entspricht nun nicht eben dem, was man von einer islamistischen Partei gemeinhin erwartet hätte. Dass die Partei dann bei den Parlamentswahlen im September 2021 haushoch verlor und vom Platz der stärksten auf den der achtstärksten politischen Partei in Marokko abrutschte – dabei büßte sie 90 Prozent ihrer vorherigen Parlamentssitze ein –, hängt mit der „Abnutzung“ jeder Partei in der Regierung und der Enttäuschung über ihre sozio-ökonomische Bilanz zusammen, aber auch mit der Frustration von Teilen ihrer Basis über die zu enge Anlehnung an Israel.
Letztere betreffend, hat die Partei, nunmehr in der Opposition, 2023 offiziell einen Kurswechsel vollzog und kritisiert nun das bilaterale Abkommen, das die Interessen der Palästinenser ausgeklammert habe.
Warum das Kontinuums-Narrativ zu Islamismus und Gewalt in die Irre führt
Dieser Blick auf unterschiedliche Situationen, in denen sich jeweils aus dem Umfeld der Muslimbrüder hervorgegangene Parteien – von der palästinensischen Hamas bis zum marokkanischen PJD – so denkbar unterschiedlich entwickelten, zeigt auf, dass die Ideologie eben doch nicht alles ausmacht.
Historische Umstände, institutionelle Entwicklungen, die soziale Situation ihrer Anhänger und der internationale Kontext sind in Wirklichkeit auf Dauer doch weitaus entscheidender, als ihre ideologischen Grundlagen es sind.
Anzunehmen, solche politischen Kräfte seien unwandelbar und würden ein für allemal allein durch ihre ideologische Matrix bestimmt, ist ahistorisch und einfältig – seien es nun islamistische Anhänger, die solches glauben, oder ihre ideologischen Gegner und Feinde.
Ideologie hat ihr Eigenleben, das ist richtig, aber die konkrete Politik von ideologisch ausgerichteten Organisationen wird immer auch durch ihr gesellschaftliches Umfeld bestimmt.
Das trifft auch und gerade auf islamistische Parteien zu, auch wenn diese selbst das Gegenteil behaupten werden und sich darauf berufen, angeblich direkt mit einem göttlichen Willen zu korrespondieren.
Deswegen sind aber auch die Behauptungen eines ununterbrochenen Kontinuums von sozialkonservativen Muslimen über parteiförmig organisierte Islamisten bis zu gewalttätigen Jihadisten schlicht Quatsch. Solcher Unfug darf politisches Handeln nicht bestimmen.
Gewalttätige IS-Anhänger sind ein Problem für Polizei, Justiz und Gefängnisverwaltung. Muslimbrüder dagegen – dort, wo es sich um solche handelt, und nicht einfach um religiös konservativ eingestellte Muslime – stellen politische Gegner jedenfalls für Linke und Liberale dar (und für Konservative eher Konkurrenten).
Es sind Gegner, die politisch und ideologisch zu bekämpfen sind, und deren Ziele es nicht zu romantisieren gilt. Nicht weniger und nicht mehr.
Eine Generalvollmacht für die administrative Gängelung von Zivilgesellschaften, Vereinen oder Einwanderern, wie sie derzeit von Regierungs- wie von rechten Oppositionspolitikern in Frankreich gesucht wird, rechtfertigen, kann es nicht.