„Cold Cases“ der Polizei

Spurlos verschwunden

Fr 15.08.25 | 16:32 Uhr | Von Roberto Jurkschat

Vermisste Personen Christian von Fellenberg, Rebecca Reusch und Lars MittankBild: Polizei Berlin / Interpol

In Deutschland verschwinden jedes Jahr tausende Menschen. Die meisten tauchen bald wieder auf. In anderen Fallen rätseln Ermittler bis heute, was aus den Betroffenen geworden ist – auch in Berlin und Brandenburg. Von Roberto Jurkschat

Am Dienstag werden in einem Wald in Sachsen-Anhalt die sterblichen Überreste von Milina K. entdeckt. Für die Angehörigen und die Ermittler endet damit eine vierjährige Suche – und viele Fragen über die Umstände ihres Verschwindens sind weiter offen. Der Fall aus Luckenwalde (Teltow-Fläming) führt erneut vor Augen, dass manche Vermisstenfälle nach Jahren, manche nach Jahrzehnten noch ungeklärt bleiben.

Einer dieser Fälle betrifft einen gebürtigen Berliner in der bulgarischen Küstenstadt Varna, im Juni 2014. Drei Freunde verbringen fünf unbeschwerte Urlaubstage voller Sonne, bevor es in einem Schnellrestaurant zu einem Zwischenfall kommt: Einer der Urlauber, Lars Mittank, 28 Jahre, wird angegriffen. Ein Schlag, ein verletztes Trommelfell. Was danach passiert, versucht die Polizei später jahrelang zu rekonstruieren.


Ohne Gepäck, ohne Handy, ohne Ziel

Am Tag nach der Auseinandersetzung sucht Lars Mittank einen Arzt auf, berichtete von Schwindelgefühlen. Der Arzt erklärt hinterher in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“, er habe einen Riss im linken Trommelfell des 28-Jährigen festgestellt und ihm davon abgeraten, mit der Verletzung in ein Flugzeug zu steigen. Seine beiden Freunde kehren wie geplant nach Schleswig-Holstein zurück, Lars Mittank bleibt länger in Bulgarien, allein.

Was in den Stunden vor seinem geplanten Rückflug geschieht, wirft bis heute Fragen auf. Vor dem Abflug sucht Lars Mittank einen Flughafenarzt in Varna auf. Der berichtet später, wie der 28-Jährige in seiner Praxis in Panik gerät und die Flucht ergreift. Kameras im Flughafen zeichnen auf, wie ein junger Mann mit blonden Haaren aus der Praxis stürmt und durch die Abfertigungshalle nach draußen läuft. Ohne Gepäck, ohne Handy, ohne ersichtlichen Grund.

Zeugen sagen später aus, wie Mittank auf dem Flughafengelände auf einen 2,50 Meter hohen Zaun zuläuft, hinter dem sich ein Maisfeld erstreckt. Er klettert über den Zaun, verschwindet zwischen den Pflanzen und kehrt nicht zurück. Seit dem 8. Juli 2014 fehlt von Lars Mittank jede Spur.


Fahndung über Interpol

Kurz nach Eingang der Vermisstenanzeige bei der Polizeiinspektion Itzehoe in Schleswig-Holstein schaltet sich auch das BKA ein. Das dort ansässige Interpol-Nationalbüro leitet eine Meldung weiter an das Interpol-Hauptquartier in Lyon. Von dort wird an Polizeibehörden weltweit eine sogenannte „Yellow Notice“ verschickt, eine Fahndungsmeldung für vermisste Personen: Lars Mittank, 1,80 Meter, 85 Kilogramm, blonde Haare, braune Augen, eine Narbe am linken Handgelenk, der Bart – falls vorhanden – mit einem Hauch Rot.

Das Bundeskriminalamt erklärte bereits 2018, dass im Schnitt etwa 50 Prozent aller Vermisstenfälle innerhalb einer Woche aufgeklärt werden. 80 Prozent nach spätestens einem Monat – 3 Prozent der Menschen bleiben länger als ein Jahr vermisst. Bei 100.000 Vermisstenmeldungen pro Jahr in ganz Deutschland betrifft das etwa 3.000 Menschen.


Vermisste tauchen in der Regel schnell wieder auf

Ähnlich hoch war die Aufklärungsquote zuletzt in Berlin, wie eine Statistik aus dem Jahr 2022 zeigt. Von den in diesem Jahr als vermisst gemeldeten 11.452 Personen konnten 11.266 Fälle aufgeklärt werden – eine Quote von 98 Prozent. In Brandenburg lag die Aufklärungsquote im selben Zeitraum bei rund 95 Prozent: 3.842 von 4.048 Fällen wurden gelöst. Nach Angaben einer Sprecherin der Brandenburger Polizei dauerte die Suche dort im Durchschnitt sechs Tage. In Berlin hingegen wurde der Großteil der Fälle innerhalb von weniger als drei Tagen abgeschlossen.

Zu den Gründen, warum Menschen verschwinden, führen weder die Brandenburger noch die Berliner Polizei eine eigene Statistik. Die Sprecherin der Brandenburger Polizei erklärte rbb|24 dazu, bei Erwachsenen seien es oft Partnerkonflikte, Schwierigkeiten am Arbeitsplatz, Suizidgefahr, finanzielle oder psychische Probleme – oder Erkrankungen wie Demenz. „Manche verlassen ihren Lebensmittelpunkt bewusst, um anderswo neu anzufangen.“ Bei Kindern und Jugendlichen liegen die Ursachen meist in Problemen in Schule oder Familie, manchmal auch in psychischen Belastungen, die sie dazu bringen, von zu Hause wegzulaufen.

In Berlin fahndet die Polizei seit dieser Woche beispielsweise öffentlich nach dem 86 Jahre alten Herbert Erich Willi B.. Am Abend des 9. August hat er seine Pflegeeinrichtung in Pankow-Heinersdorf verlassen und ist nicht dorthin zurückgekehrt. Der Mann leide an einer Demenzerkrankung und könne sich in einer orientierungslosen oder hilflosen Lage befinden, so die Polizei. Er sei täglich auf Medikamente angewiesen. Der Vermisste ist 1,66 Meter groß, habe eine schlanke Statur, kurze graue Haare und einen grauen Oberlippenbart. Hinweise nimmt die Kriminalpolizei entgegen.


Geschäftsmann nach Besuch im „Soho House“ vermisst

Ein anderer Vermisstenfall ist seit April auf der Website der Polizei aufgeführt – auch das rbb-Fernsehen berichtete darüber. Der 39 Jahre alte Deutsch-Chilene Aleph Christian von Fellenberg Palma verschwand im Frühjahr während eines Aufenthalts in Berlin. Ostersonntag soll der Geschäftsmann im „Soho House“ in der Torstraße gewesen sein, einem Privatklub und Anlaufstelle der Kreativszene.

An diesem Abend wurde er noch im Fitnessraum seines Hotels gesehen, soll hinterher noch etwas zu Essen bestellt haben. Die letzten SMS mit Freunden schrieb er gegen 23:30 Uhr, dann verliert sich seine Spur. Ermittler des Landeskriminalamtes suchten in den darauf folgenden Tagen mit Spürhunden und fanden die Smartwatch des 39-Jährigen nahe der Siegessäule. Die Polizei bittet weiter um Hinweise.

Der 66-jährige Eberhard N. aus dem Landkreis Potsdam-Mittelmark zählt zum Beispiel zu den 58 Menschen aus Brandenburg, die bereits seit dem Jahr 2024 als vermisst werden. Insgesamt wurden in Brandenburg 411 Personen vermisst (Stand 01.06.2025). N. lebt in Ziezow, einem Gemeindeteil im Amt Niemegk südlich von Bad Belzig. „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass er sich in einer hilflosen Lage befindet“, so die Polizei. Er verließ sein Zuhause am Morgen des 3. Juli 2024 um 7:30 Uhr mit einem E-Bike. Nach Angaben der Polizei trug er eine grün/grauen Arbeitshose, ein T-Shirt und Sandalen. Eine groß angelegte Suche unter anderem mit Polizeihubschrauber blieb erfolglos.


Spielräume der Vermisstensuche

Wenn eine Person verschwindet, zählt für die Ermittler zunächst das Alter. Bei Minderjährigen ist die Sache klar: Sie gelten als besonders schutzbedürftig. Bei Erwachsenen ist das nicht automatisch so. „Erwachsene, die im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte sind, haben das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen, auch ohne diesen Angehörigen oder Freunden mitzuteilen“, heißt es auf der Website des BKA. Wird eine vermisste erwachsene Person gefunden, darf die Polizei ihren Aufenthaltsort gegen ihren Willen niemandem nennen.

Erst wenn eine „Gefahr für Leib oder Leben“ vermutet wird, leiten die Behörden eine offizielle Fahndung ein. Dabei können etwa Hundertschaften, Taucher oder andere Polizeikräfte angefordert werden. Die Öffentlichkeit kann ebenfalls eingeschaltet werden. In solchen Fällen erscheint die Vermisstenmeldung etwa auf der Homepage der Polizei, in Medien oder im „Berliner Fenster“ der BVG.


15-Jährige wird seit sechs Jahren gesucht

Im Fall der damals 15-jährigen Rebecca Reusch aus Neukölln hatte die Polizei vor sechs Jahren ebenfalls auf einen Appell an die Öffentlichkeit gesetzt. Die Schülerin hatte in der Nacht zum 18. Februar 2019 bei ihrer älteren Schwester, ihrem Schwager und deren damals zweijährigen Tochter in Britz übernachtet. Der Schwager kam spät in der Nacht nach einer Firmenfeier nach Hause.

Die Schwester verließ früh am Morgen mit dem Kind das Haus, Rebecca Reusch musste erst zur 3. Stunde in die Schule nach Gropiusstadt fahren. Dort kam sie nicht an. Die Ermittler haben ihre Handydaten ausgewertet, Zeugen befragt. Der Verdacht fiel schnell auf den Schwager, er wurde zwei Mal kurzfristig festgenommen, aber weil sich die Indizien nicht erhärteten, wurde er wieder freigelassen.


Vermisstenakten 30 Jahre lang offen

Sein rotes Auto wurde am Tag ihres Verschwindens und am Tag danach auf der A12 Richtung Frankfurt/Oder von Kameras erfasst. Was der Schwager dort tat, bleibt unklar. Groß angelegte Suchaktionen an der Strecke mit Tauchern und Suchhunden blieben erfolglos.

2023 erklärte die Polizei, es seien nach der Öffentlichkeitsfahndung mehr als 3.000 Hinweise zu Rebecca Reusch eingegangen. Eine Mordkommission habe sie geprüft, viele davon führten ins Leere, „andere werden noch immer bearbeitet“, hieß es damals in einer Meldung. Demnach meldeten auch nach Jahren noch Bürgerinnen und Bürger mit neuen Beobachtungen. Manche suchten eigenständig nach der Vermissten, durchstreiften Wälder, stießen auf Decken oder andere Gegenstände, die ihnen relevant vorkamen, und meldeten die Funde der Polizei.

Eine Sprecherin der Polizei sagte rbb|24, dass die maximale Zeit, die eine Vermisstenakte geöffnet bleibt, 30 Jahre beträgt. Danach seien kaum noch sterbliche Überreste zu finden, sollte der Mensch verstorben sein. Es könne allerdings auch vorkommen, dass noch Jahrzehnte, nachdem Angehörige eine Vermisstenanzeige aufgegeben haben, Hinweise aus der Bevölkerung eingehen.


Antibiotikum oder Angst – oder beides

In der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ berichtet der Arzt aus Varna, der vor elf Jahren in Lars Mittank in Bulgarien behandelt hat, von einem Medikament, das möglicherweise seltene Nebenwirkungen bei dem damals 28-Jährigen ausgelöst haben könnte. Er habe Lars Mittank das Breitband-Antibiotikum Cefcil verschrieben, da dieser eine Operation seines Trommelfells in Bulgarien ablehnte, sagt der Mediziner dem ZDF im Jahr 2015.

Seine Mutter berichtet später, ihr Sohn habe ihr mitten in der Nacht vor seinem Verschwinden eine SMS geschrieben: „Was ist Cefcil 500?“ Zu der Zeit hatte Lars Mittank das Hotel, in dem er untergekommen war, bereits verlassen, offenbar verängstigt. Apothekerin Rada Pechliwanowa vom bulgarischen Apothekerverband erklärt in der ZDF-Sendung: „Zwischen dem Antibiotikum und dem auffallenden Verhalten des Patienten könnte ein Zusammenhang bestehen. Wir sprechen aber von einer sehr seltenen Nebenwirkung, die davon abhängt, ob er zum Beispiel ein anderes Medikament eingenommen oder Alkohol getrunken hat.“ Welche Rolle das in Deutschland nicht zugelassene Cefil gespielt haben könnte, ist eine der Fragen, die im Fall des seit elf Jahren vermissten Lars Mittank offen geblieben sind.

Beitrag von Roberto Jurkschat