Berlin, Tipi am Kanzleramt: CABARET“ am 13.8.2025
Ein begeisterndes Ensemble im Tipi am Kanzleramt | Foto:Barbara Braun
Psychologisch betrachtet, ist Cabaret in dieser Fassung ein präzises Seziermesser für menschliche Schutzmechanismen. Sally Bowles (Lara Hofmann berührt mit ihrer Darstellung und begeistert mit ihrer vokalen Vielseitigkeit), das exzentrische Herz des Stücks, lebt im Modus der Verdrängung: Alkohol, Glamour und Gesang sind ihr Panzer gegen existentielle Angst. Ihr Mantra „Life is a Cabaret“ ist weniger ein fröhlicher Lebensruf als eine dünne, brüchige Wand gegen den drohenden Absturz. Clifford Bradshaw (Volkmar Leif Gilbert, mit ebenso tadelloser Leistung und persönlicher Note), der amerikanische Schriftsteller, kommt als Idealist nach Berlin – auf der Suche nach Inspiration – und findet sich in einem moralischen Zwiespalt wieder. Je deutlicher die politische Bedrohung wird, desto stärker reibt sich seine anfängliche Naivität an der Realität, bis eine kognitive Dissonanz ihn zum Handeln zwingt.
Lara Hofmann begeistert als Sally Bowles | Foto: Frank Gaeth
Fräulein Schneider (Barbara Schnitzler) und Herr Schultz (Helmut Mooshammer) verkörpern die bittersüße Mischung aus Sehnsucht und Resignation. Ihre zarte Romanze zerbricht unter dem Druck des aufkommenden Antisemitismus – ein Lehrstück über Anpassung aus Angst. Über allem steht der Conférencier (Oliver Urbanski gibt diesem Charisma, Zynismus, Unheimlichkeit und stimmliche Brillanz). Er ist mehr als nur ein Showmaster: Er ist das Spiegelbild einer gefährlichen Verführung zur Apathie, ein Verlockungsangebot, das den Zuschauer unmerklich zum Mitläufer machen könnte. In meinem Fall ging die Verführung sogar so weit, dass ich bereit war, meine „Frau“ – die in Wahrheit gar nicht meine Frau war, sondern eine mir völlig fremde Tischnachbarin – gegen eines seiner Kitkatgirls einzutauschen. Leider nahm er mir „Frenchie“ (Tobias Stemmer) wieder von meinem Schoß, weil die Sorge bestand, sie könne bei unserem innigen Kennenlernen schwanger werden.
Oliver Urbanski als Conférencier | Foto: Barbara Braun
Die intime Enge des Zeltes wirkt dabei wie ein psychologischer Verstärker. Zwischen Tischreihen und dicht an dicht platzierten Klappstühlen sitzt das Publikum nicht nur vor, sondern fast in der Handlung, die sich in einigen Szenen sogar im Auditorium abspielt. Diese Nähe lässt den Humor schärfer blitzen und die Abgründe tiefer wirken.
So wird Cabaret im Tipi am Kanzleramt zu mehr als einem Musicalabend: Es ist eine tief gezeichnete Studie menschlicher Überlebensstrategien zwischen Lust und Angst, eine Mahnung in Kostüm und Musik, dass Unterhaltung nie frei von Kontext ist. Wer sich auf diesen Abend einlässt, blickt in einen Spiegel, der nicht nur das Berlin von damals, sondern auch die seelischen Mechanismen unserer Gegenwart reflektiert – funkelnd, verführerisch und beunruhigend nah.
Cabaret erzählt von einer Gesellschaft im Umbruch, in der Angst, Unsicherheit und politische Lagerkämpfe das Klima vergiften. Manche Zuschauer mögen darin Anklänge an eine links-grün geprägte Meinungshegemonie erkennen, andere sehen Parallelen zum aktuellen Erstarken der AfD. Gerade diese Offenheit für gegensätzliche Deutungen macht das Stück auch heute noch so brisant: Sie zwingt dazu, die eigene Gegenwart zu hinterfragen und sich zu fragen, welche Mechanismen wir vielleicht längst wieder zulassen.
Es ist eine Freude, diese exquisit besetzte Produktion miterlebt zu haben. Statt wie andernorts ausschließlich mehr oder weniger gesangsbegabte Schauspieler zu einzusetzen, passt hier in Berlin alles – von schauspielerischer Größe bis zu faszinierenden Stimmen. Das Ganze in Begleitung einer mit Raffinesse aufspielenden fünfköpfigen Band. Abgerundet wird das Erlebnis durch den wirklich charmanten und aufmerksamen Service des für Einlass sowie Speisen und Getränke verantwortlichen Personals. Hier könnte so manches Restaurant noch einiges lernen.
Das ist die beste Interpretation dieses Musicals, die ich bislang miterleben durfte.
Marc Rohde