Dieses Youtube-Video ist kameratechnisch ein Spezialfall. Es zeigt nichts als die Wahrheit: in weiter Entfernung ein einsam schaffender Musiker, keinen direkten Kontakt zu Menschen hat er, man müsste zu ihm vermutlich über eine Wendeltreppe hochklettern. Zudem gibt es nur diese eine Kameraeinstellung, der Mann befindet sich in 50 Metern Abstand, kein Blick auf Hände oder Füße, man sieht nur seinen ruhig sich bewegenden Rücken. Mancher hätte ihn gern aus der Kamera-Nähe gesehen.
Der Mann auf dem Video sitzt an einer berühmten Berliner Orgel und heißt Stefan Schmidt. Nicht nur in Deutschland, sondern international zählt er zur ersten Riege seiner Zunft. Seine Gesamteinspielungen der Orgelwerke von César Franck und Maurice Duruflé – die Toccata op. 5 spielt er sensationell – zählen zu den Referenzaufnahmen, darüber hinaus gilt er als grandioser Improvisator. Seit 2005 ist er Domorganist in Würzburg. Im kommenden Jahr wird er 60 Jahre alt. Und er ist gebürtiger Düsseldorfer, Jahrgang 1966; bis zu seiner Berufung nach Franken war er Kantor an St. Peter in Düsseldorf-Friedrichstadt, wo er auch geboren wurde. Nun sind wir zu Besuch bei ihm am Kiliansdom, und wie man so sagt: Es geht ihm prächtig. Und er spielt auch so.
Stefan Schmidt ist ein Mann der langen Strecken, die er mit beeindruckender Kondition absolviert. Die stellt er aber nicht selbstgefällig aus, er macht kein Bohei um sie und um sich. Schmidt ist, wie er immer ist. Jenes Youtube-Video entstand im vergangenen Oktober bei den 1. Berliner Orgelimprovisationstagen. Er spielte auf der Orgel der Auenkirche in Berlin-Wilmersdorf (90 Register auf vier Manualen), ein riesiges Instrument, das zweitgrößte in der Hauptstadt, dessen Farbenreichtum Schmidt, der Meister der Erfindung, in einem Ritt durch die Stile nutzte. Lauter Choräle als Inspiration für Bearbeitungen – und jede Improvisation gänzlich individuell. Mal romantisch versponnen, mal französisch-modern klirrend, mal barock gezirkelt. In seiner Version über „Nun danket all und bringet Ehr“ legte er den Choral als Cantus firmus mit Zungenstimme in den Tenor, über dem zwei Linien ihre Kapriolen absolvierten, im Bass ließ das Pedal aparte Tupfer vernehmen. Eine kombinatorische Stegreif-Meisterleistung. Man könnte sie glattweg abschreiben.
Kann man das lernen? In gewissem Maße ja. Braucht man trotzdem das Improvisations-Gen? Unbedingt. Gibt es motivierende Orgeln, auf denen ein Improvisationskonzert unter glücklichsten Sternen steht, und andere, bei denen man immer noch sehr ordentliche Leistungen abliefert, ohne dass der Organist von sich selbst entzückt wäre? Ja. Seine Hausorgel in Würzburg (fünf Manuale, 87 Register, im Jahr 1968 von der Bonner Firma Klais erbaut) kennt Schmidt natürlich am allerbesten, seit 20 Jahren verwöhnt er die Domgemeinde mit seinem Spiel. Und wenn er seinem Besucher nun die Domorgel vorführt, möchte der sich am liebsten über Nacht hier einschließen lassen und alle Register ziehen und doch nicht fertig werden mit der Klangerkundung. Hier nach dem Gottesdienst die Widor-Toccata erleben: der Wahnsinn
Die Würzburger Orgel hat ein Geschwisterchen im Dom, nämlich die Querhausorgel, die man aber auch vom Hauptspieltisch auf der Orgelempore bedienen kann. Das führt zu wundervollen Surround-Effekten bei den Kirchgängern: Sie haben die Illusion, als seien zwei Organisten gleichzeitig am Werk. Schmidt genießt diese Raum-Echo-Wirkungen, wobei für den Musiker die Zeitverzögerung zur Querhausorgel ein gewisses Handicap ist; schnelle Stücke funktionieren nicht so gut über die Entfernung. In jedem Fall ist die akustische Kontrolle über den Orgelklang im Kirchenraum überraschend präzise, sagt Schmidt mit seinem leisen, feinen Humor: „Kein Schwimmfest.“
Manche Leute reisen von fern an, um Schmidt sonntags spielen und zaubern zu hören – wenn er nicht gerade auf Konzertreise ist. Oder in Düsseldorf unterrichtet: Seit 1994 – dies passt ebenfalls unter das Motto der langen Strecken – lehrt er Orgel und Improvisation an der Robert-Schumann-Hochschule; 2006 erfolgte die Berufung zum Honorarprofessor. Neulich blieb er etwas länger am Rhein: Bei den Feierlichkeiten zur Einweihung der neuen Riesenorgel in der Düsseldorfer Dreifaltigkeitskirche gab er ein Konzert unter der Überschrift „Heiliger Geist“ mit Werken von Jeanne Demessieux, Johann Sebastian Bach und Maurice Duruflé.
Düsseldorfer Musikfreunde kennen Schmidt aus seinen jüngeren Jahren sehr gut. Er studierte an der Robert-Schumann-Hochschule das Fach Katholische Kirchenmusik in der Orgelklasse von Prof. Paul Heuser, 1991 legte er das A-Examen ab. Danach strebte Schmidt nach den höheren Weihen, er erlangte sie an der Musikhochschule des Saarlandes bei keinem Geringeren als Prof. Daniel Roth in Gestalt des Konzertexamens im Fach Orgelinterpretation; Roth war über Jahrzehnte Titularorganist an Saint-Sulpice in Paris und gilt noch immer als einer der Großmeister seines Fachs. Danach wechselte Schmidt als Kantor nach St. Peter in Düsseldorf. In dieser Zeit betätigte er sich musikalisch überaus vielseitig. Neben seiner Beschäftigung als Kirchenmusiker, Konzertorganist und Dozent gründete und leitete er das Vocalensemble Ars Cantandi und war als Pianist ein gefragter Liedbegleiter.
In den kommenden Wochen ist Schmidt abermals oft auf Reisen, lange Strecken sind häufig darunter. Aus der Ferne bringt er Impressionen und Inspirationen wieder nach Würzburg zurück. Am 24. September gastiert Schmidt in der „Rausch“-Reihe im Essener Dom, am 25. Oktober in St. Meinolf in Hagen. Eine Spezialität Schmidts sind Live-Improvisationen zu Stummfilm-Klassikern, so am 10. Oktober im Würzburger Dom und am 16. November in St. Wolfgang zu Regensburg, wo er seine Klänge F.W. Murnaus „Faust“ unterlegt. Solche Aufführungen bereiten Schmidt riesige Freude, da er den Film sehr gut kennt, weiß er, was wann kommt – und er kann sich mit dem Meisterwerk vor Augen improvisierend treiben lassen: „Lampenfieber habe ich da nie, im Gegenteil.“
Ganz sicher wird er in dieser Aufführung diverse Sätze aus Goethes Werk im Kopf haben. Der wichtigste, die zahllosen Tasten, Knöpfe und Pfeifen einer Orgel bedenkend, geht so: „Greift nur hinein ins volle Menschenleben!“