Ein Baum. Er ist der Einzige in diesem Abschnitt der Ludwigstraße im Stuttgarter Westen. Klein ist er – und er leidet merklich unter der Hitze: Seine Blätter sind etwas welk und neigen sich gen Asphaltboden, der sich im Sommer stark aufheizt und durch die abstrahlende Hitze den Baum ermatten lässt. Der Baum wächst nicht horizontal vom Boden in den Himmel, sondern erstreckt sich quasi liegend in die Diagonale. Ein Baummieter. Denn der Baum wächst aus dem Fenster der Raumgalerie, hängt sozusagen freischwebend in den Seilen, seine Wurzeln, die sich im Inneren der Galerie befinden, sind in einem braunen, mit Erde und Substrat befüllten Jutesack wohl gebettet.

Schräg unter dem Blätterdach sitzt ein Mann. Legeres weißes Hemd, kurze Hose, barfuß – aber mit Schuhgröße 46. „Ich fühle gerne, worauf ich gehe“, sagt Johann Senner, „ich laufe bis zu einer Bodentemperatur von 45 Grad Celsius barfuß – wenn ich es nicht mehr aushalte, ist das mein Indikator dafür, dass es heißer ist“. Seine technischen Messungen haben schon mal 80 Grad Celsius ergeben. Ein Alarmsignal.

In der Raumgalerie zeigt Senner seine Ausstellung

Senner ist Landschaftsarchitekt aus Überlingen, er hat eine Firma mit 99 festangestellten Mitarbeitern mit dem Namen Planstatt Senner Landschaftsarchitekturbüros, mit Standorten in Überlingen, Stuttgart, München und Berlin. Er und seine Mitarbeiter – die zusammen aus zehn verschiedenen Berufssparten kommen und somit transdisziplinär arbeiten – beschäftigen sich bei all ihren Projekten mit dem Klimawandel und all dem, was damit einher geht: Hitze, Überschwemmungen, Wassermangel, eine sich verändernde Biodiversität.

In Stuttgart, genauer gesagt in der Raumgalerie von Thomas Geuder, zeigt Senner derzeit seine Ausstellung „Das neue Kleid der Stadt“. Bereits vor sieben oder acht Jahren hat er beim BDA die Ausstellung „Das neue Kleid der Landschaft“ gezeigt, damals ließ er Models in seinen Plänen, die zu Kleidern und kurzen Hosen umgestaltet waren, über den Laufsteg stolzieren. Mag er es extravagant? „Nein, aber wenn mir ein Thema wichtig ist, möchte ich das rüberbringen – und zwar nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern auf eine andere Art“, sagt Senner.

Mit Drohnen und Infrarotkameras erstellt Planstatt Senner Wärmebilder

Dieses Mal ist es der Baum, der fast schon selbst wie ein Fingerzeig wirkt, Teil dieser „anderen Art“ von Senners Überzeugungsstrategie. Symbole sind ihm wichtig. So kam ihm das 50-Jahr-Jubiläum von Friedensreich Hundertwassers Baummietern gerade recht: Im Jahr 1975 erdachte sich der Künstler und Architekt Bäume, die aus dem Fenster wachsen. Sie sind weithin sichtbar und kommen vielen Menschen zugute, sie erzeugen Sauerstoff, verbessern das Stadt- und Wohnklima und sind eine perfekte Staubschluck- und Staubfilteranlage. „Die Zeit ist reif dafür, der Klimawandel ist ein großes Thema“, sagt Senner und tritt mit seinen großen Füßen in große Fußstapfen.

Neben Symbolen sind es Bilder, die für Senner eine große und starke Aussagekraft haben. Mit Drohnen und Infrarotkameras erstellen er und seine Kollegen Wärmebilder. In der Ausstellung hängt etwa ein großformatiges Bild vom Pariser Platz, „der Bratpfanne von Stuttgart“. Auf der Aufnahme dominieren die Farben Rot und Gelb, die für Hitze stehen, sehr deutlich. „Da ist die Aussage mit einem Blick zu erfassen“, sagt Senner. Anhand der Aufnahme lässt sich zudem simulieren, was vier oder sechs Bäume auf dem Platz hitzetechnisch bringen würden. Ebenso kann man durch eine einzelne Aufnahme zeigen, wie viel eine Mittelstreifenbegrünung auf einer Bundesstraße bringt, wie an der B462 bei Baiersbronn von Planstatt Senner angelegt. Oder dass ein Fußballfeld mit echtem Rasen blau ist, einer mit Kunstrasen rot.

Mooswand aus Dschungelhaus in Überlingen

Johann Senner wendet sich von den Wärmebildern ab und betritt den nächsten Raum. Die Wände sind mit Moosplatten bespannt, auf dem Boden liegt Rindenmulch, ein Liegestuhl ist darauf platziert. Es riecht erdig, feucht, waldig – und es ist angenehm kühl, obschon draußen die Mittagshitze in der Häuserschlucht hängt. Senner nimmt die Moosplatten nach der Ausstellung wieder mit nach Überlingen, in sein Dschungelhaus, das er vor einigen Jahren als Bürogebäude hat bauen lassen, samt Pool für seine Mitarbeiter. Es ist preisgekrönt und besticht vor allem durch seine Fassadenbegrünung. Auch vom Dschungelhaus gibt es eine – ziemlich blaue – Wärmebildaufnahme.

Aus der Raumgalerie im Stuttgarter Westen wächst derzeit ein kleiner Baum aus dem Fenster. Foto: Lichtgut/Christoph Schmidt

„Wir müssen Bäume, Pflanzen und Häuser zusammenbringen, das muss wieder eine Liebe werden“, sagt Senner. „Wir müssen wieder lernen, dass man vor das Haus auch einfach Bäume pflanzen kann, statt all der Gebäudetechnik wie Klimaanlagen.“ In Stuttgart ist er mit der Revitalisierung des Schlossgartenhotel durch Fassaden- und Dachbegrünung beauftragt, zudem soll er besonders heiße Straßen in Stuttgart begrünen. „Wir müssen die Angst vor Pflanzen und Bäumen verlieren“, sagt er. Dass der Baum in die Betonwand reinwachse, sei „ein Märchen“.

Und an Märchen glaubt er nicht. Johann Senner ist ganz bodenständig auf einem Bauernhof im Schwäbischen aufgewachsen – und hat gelernt, dass „die Natur mehr ist als das, was man sieht. Meine Mutter hat mir beigebracht, die Landschaft zu lesen, etwa zu ergründen, warum dieser eine Baum krumm ist“, sagt er. Er hat später nicht nur Landschaftsarchitektur studiert, sondern auch Landschaftsökologie. „Das gehört für mich zusammen.“

„Bäume sind ideale Staubfänger“

So wie auch die verschiedenen Faktoren, welche die Umwelt, die Tiere und Menschen beeinflussen. Dazu zählen etwa Fein- und Grobstaub. „In München hat man zwei Leichen obduziert. Der eine Mensch hatte an einer baumlosen großen Straße gelebt, der andere zwanzig Jahre lang geraucht. Das Ergebnis war, das die Lunge des ersten genauso fahl war wie die des Rauchers“, sagt Senner. Seine Lösung: wieder der Baum. Nicht nur als CO2-Lieferant. „Bäume sind ideale Staubfänger: Wenn es regnet, geht der Staub direkt in den Boden – und nicht in unsere Lunge.“ Für die biologische Bodensanierung wendet er wiederum viel Zeit auf: „Es gibt Pflanzen, die können viele Schadstoffe binden und zerlegen.“

Und freilich hat er stets den großen Kreislauf der Natur im Blick, zu der auch das Thema Biodiversität zählt. Bei der Villa Berg in Stuttgart hat Planstatt Senner den Wettbewerb für die Instandsetzung der historischen Parkanlage gewonnen. Den Anfang machte eine Bestandserhebung der Würmer, Eidechsen und sonstigen Bewohner des Parks. Das gehört zum Standard. Aus dieser Erhebung ergibt sich dann generell für ihn die Art der Bepflanzung.

Hierzu vertritt er eine andere Meinung als die meisten. „Ich greife nicht nur auf einheimische Arten zurück“, sagt er. Ulmen, Eichen und Eschen seien drei große einheimische Bäume, die es in unseren Breiten aufgrund des Klimawandels inzwischen fast nicht mehr gebe. So greift er stattdessen gerne auf ungarische Eichen zurück, die mit weniger Niederschlag auskommt, oder auf Weißbuche oder Steinweichsel zurück. Zudem hätten sich in Deutschland längst Tiere aus anderen Gebieten angesiedelt, etwa Insekten, die schon längst über die Alpen zu uns rübergekommen wären – und die bräuchten ihre natürlichen Nahrungsquellen, um nicht zu verhungern.

Senner sitzt wieder schräg unterhalb des Baummieters und schaut auf Straße mit den Stoßstange an Stoßstange parkenden Autos. Seine Füße sind inzwischen rot, nicht wegen der Hitze, sondern weil er im gleichfarbigen Sand stand, der in der Galerie ausgeschüttet wurde, um Hitze und Dürre zu veranschaulichen. Trotz der Asphaltwüste stellt er Stuttgart ein ganz gutes Zeugnis aus, was die städtebauliche Anpassung an den Klimawandel angeht. „Stuttgart war eine der ersten Städte, die eine differenzierte Klimaanalyse anfertigen hat lassen – allein schon bedingt durch die Kessellage.“ Die Ergebnisse daraus seien in die Gesamtplanung eingeflossen – und würden das bis heute tun.

Nur mit dem Neckar und dem Nesenbach hadert er. „Man muss im Neckar wieder schwimmen können. Und wenn man es schafft, einen unterirdischen Bahnhof zu bauen, wird man wohl auch das Bächle hochholen können.“ Die Bundesgartenschau 2043 in Stuttgart, Esslingen und Ludwigsburg sieht er als große Chance, geradezu als Motor für weitere und weitreichende Veränderungen, um dem Klimawandel Rechnung zu tragen.

Auch ein Baum macht einen Unterschied

Bis dahin könnte auch jeder Einzelne etwas tun, etwa – in Abstimmung mit der Hausgemeinschaft – die Fassade begrünen oder die Autos aus dem Hinterhof verbannen und stattdessen Bäume pflanzen. „Unter einem Baum zu sitzen, das ist das Beste überhaupt“, sagt Senner. Auch ein Baum mehr macht einen Unterschied. Er ist ein positiver CO2-Fußabdruck. Bei Senner ein sehr großer.

Info

Ausstellung
„Das neue Kleid der Stadt“ ist bis zum 6. September in der Raumgalerie, Ludwigstraße 73 in Stuttgart, zu besichtigen. Ansonsten sind die Öffnungszeiten Montag bis Donnerstag 11 bis 19 Uhr, Freitag 14 bis 19 Uhr, Samstag 13 bis 18 Uhr. Sonntag ist geschlossen. Am 16. und 18. August ist die Galerie geschlossen. Am Freitag, 29. August, ab 16.30 Uhr, gibt es eine Ausstellungsführung mit Johann Senner.