Polizeiwagen blockieren die Straßen, eine Drohne schwebt über den Häusern und ein Spezialeinsatzkommando (SEK) rücken an: Anfang Juli Kostenpflichtiger Inhalt sorgte ein Einsatz mitten in Rheydt für Aufsehen. Ein junger Mann befand sich auf dem Dach des ehemaligen Atlantis-Kinos an der Limitenstraße. Er lief dort hin und her, kletterte auf den Balkon einer darunter liegenden Wohnung, klatschte wiederholt in die Hände und wirkte sichtlich verwirrt. Die Einsatzkräfte gingen davon aus, dass sich der 21-Jährige in „suizidaler Absicht“ auf dem Gebäude aufhielt.

Da der Mönchengladbacher alle Versuche ignorierte, mit ihm Kontakt aufzunehmen, nahmen ihn das SEK schließlich in Gewahrsam. Der Mann wurde zur Polizeiwache gebracht, wo ein Bereitschaftsarzt sowie Mitarbeiter des Ordnungsamtes prüften, ob er in eine psychiatrische Einrichtung gebracht werden muss – was dann zum Selbstschutz des 21-Jährigen auch geschah. In Mönchengladbach kommt es selten vor, dass ein Vorfall dieser Art viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber er ist beispielhaft für ein wachsendes Problem in der Stadt.

Immer mehr Zwangseinweisungen

Die Zahl der Einweisungen nach dem Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) steigt seit Jahren. Nach dem Gesetz können Menschen – auch gegen ihren Willen – in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden, wenn eine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt, die auf psychische Erkrankungen zurückzuführen ist. Weil das in Grundrechte eingreift, unterliegt die Maßnahme strengen Voraussetzungen. Sie darf nur umgesetzt werden, um das Leben der Betroffenen und anderer Menschen zu schützen.

2022 gab es in Mönchengladbach 629 unfreiwillige Einweisungen, bei denen eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung geprüft wurde. 2023 waren es 860 und vergangenes Jahr 919, wie ein Stadtsprecher auf Anfrage unserer Redaktion mitteilt. In der Regel werden die Betroffenen zur LVR-Klinik in Rheydt gebracht. „Hauptsächlich kommen die Patienten freiwillig zu uns. Aber wir erleben auch tagtäglich, dass Menschen auf Grundlage des ‚PsychKG‘ eingewiesen werden müssen“, sagt Jutta Maria Scheuermann, Chefärztin und Ärztliche Direktorin der LVR-Klinik. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Darum werden die Menschen eingewiesen

Die Fälle von Psychosen und anderen psychischen Erkrankungen, die durch Drogen ausgelöst oder verstärkt werden, haben in den vergangenen Jahren stark zugenommen. „Der Crack-Konsum ist ein wachsendes Problem in Mönchengladbach. Die Droge macht schnell abhängig und aggressiv“, so Scheuermann. „Auch andere Drogen wie das teillegalisierte Cannabis können sich massiv auf die Psyche auswirken.“ Immer mehr Menschen konsumieren – um der Realität zu entfliehen, ihre Probleme, Sorgen und Ängste zu verdrängen.

In anderen Fällen müssen Menschen eingewiesen werden, weil die Situation in der Familie oder Partnerschaft eskaliert ist. Hintergrund kann eine psychische Erkrankung sein, die bislang nicht erkannt wurde. „Es kommt auch vor, dass Angehörige sich des Problems bewusst sind, doch der Betroffene sich nicht in Behandlung begeben will“, sagt Jochen Möller, Pflegedirektor der LVR-Klinik. Bestimmte Lebensumstände begünstigen dabei seelische Erkrankungen. Dazu zählen Armut und Arbeitslosigkeit. In Mönchengladbach sind vergleichsweise viele Menschen von beidem betroffen.

Einsamkeit spielt bei zwangsweisen Unterbringungen ebenfalls eine Rolle. „Wenn Menschen an Demenz erkrankt sind, aber sich niemand um sie kümmert, kann das zu gefährlichen Situationen führen“, sagt Chefärztin Scheuermann. Der angelassene Herd ist ein Risiko für alle Bewohner eines Hauses. Unsicheres Fahrverhalten kann im Straßenverkehr verheerende Konsequenzen haben. „Früher war oft die Familie für die Demenzkranken da und hat auf sie geachtet. Heute sind mehr Menschen sozial isoliert. Das gilt nicht nur für Senioren“, betont Jochen Möller.

Strenge Vorgaben und intensive Betreuung

Wird ein Betroffener nach dem „PsychKG“ in die LVR-Klinik eingeliefert, untersuchen die Ärzte dort noch einmal, ob eine Gefährdung vorliegt. Ist eine Unterbringung notwendig, ordnet diese ein Amtsrichter an. Der Patient bekommt einen Pflichtverteidiger und kann Einspruch erheben. Je nach Fall kommen die Menschen auf unterschiedliche Stationen: Die LVR-Klinik hat etwa eine Gerontopsychiatrie, die auf die Behandlung psychischer Erkrankungen im Alter spezialisiert ist.

„Ob der Patient zuhause gepflegt werden kann, oder in einer Senioreneinrichtung ziehen muss, weil etwa das soziale Netz fehlt, ist eine zentrale Frage, mit der wir uns dann beschäftigen“, sagt Scheuermann. Bei Suchterkrankungen ist oft eine Entwöhnung mit anschließender Reha notwendig. „Die Patienten bleiben in der Regel vier bis sechs Wochen bei uns“, so Scheuermann. „Eine Alkoholentgiftung dauert gut 20 Tage. Aber das variiert natürlich je nach Fall.“

Immer mehr Menschen mit psychischen Erkrankungen

Dass die Zahl der Einweisungen nach dem „PsychKG“ in Mönchengladbach steigt, ist nicht nur für sich genommen beunruhigend, sondern Anzeichen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die Scheuermann, Möller und ihre Kollegen beobachten. „Mentale Erkrankungen nehmen zu“, sagt Scheuermann. „Statistisch gesehen erkrankt in Deutschland jeder dritte innerhalb eines Jahres psychisch. Es kann jeden treffen.“ Das liege an wachsender sozialer Isolation, finanziellen Sorgen, der Verunsicherung durch die Corona-Pandemie, Kriege und globale Krisen – und am Klimawandel. „Durch anhaltende Hitze sind die Menschen nicht nur gereizter. Psychosen, Depression, Demenz oder Angsterkrankungen können ebenfalls die Folge sein“, sagt Scheuermann.

Hilfsangebote müssen ausgebaut werden

In Mönchengladbach gebe es ein „sehr gut vernetztes“ Hilfssystem, welches sich aktuell immer besser entwickelt. Vor allem in Sachen Prävention. „Die wird generell nicht so gut finanziert wie die Behandlung von Erkrankungen“, sagt Scheuermann. „Dabei wäre das extrem wichtig.“ Oft litten Menschen lange an einer Erkrankung, suchten sich spät Hilfe. Weil mentale Gesundheit noch immer gesellschaftlich stigmatisiert ist. Weil Freunde und Familienangehörige fehlen, die dabei unterstützen, den ersten Schritt zu gehen. Weil Ärzte und Therapeuten überlastet sind und keine Termine anbieten können.

Doch es gibt Lösungsansätze: „Wir bauen aktuell die stationsäquivalente Behandlung aus, um mehr Menschen zu erreichen“, sagt Möller. Das Konzept setzt darauf, Menschen zuhause aufzusuchen – und zu therapieren. „Die Hemmschwelle ist viel geringer als bei einem Klinikaufenthalt. Und es ermöglicht zum Beispiel alleinerziehenden Müttern, die keine Zeit für eine Behandlung im Krankenhaus haben, trotzdem Unterstützung zu bekommen“, sagt der Pflegedirektor der LVR-Klinik. „Solche Projekte sollten genauso ausgebaut werden, wie Aufklärungsbesuche an Schulen und Beratungsangebote. Schließlich steigt die Zahl schwerer mentaler Erkrankungen weiter an. Es muss dringend gegengesteuert werden.“

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe: Wer sich mit Suizidgedanken trägt, empfindet seine persönliche Lebenssituation als ausweglos. Doch es gibt eine Fülle an Angeboten zur Hilfe und Selbsthilfe, auch anonym. Die Telefonseelsorge ist unter den Rufnummern 0800/1110111 und 0800/1110222 sowie 116 123 rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und in jeder Hinsicht anonym. Der Anruf hier findet sich weder auf Ihrer Telefonrechnung noch im Einzelverbindungsnachweis wieder.