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Eine neue Studie lobt Russlands Rüstungskapazitäten in den Himmel. Andere Experten zweifeln stark. Fraglich ist, wozu Russland noch Panzer braucht.

Moskau – „Das tatsächliche Produktionsvolumen der russischen T-90M-Panzer könnte deutlich höher sein als bisher angenommen“, schreibt Oleksandr Yan. Der Autor des ukrainischen Magazins Militarnyi bezieht sich auf eine aktuelle Studie der pro-ukrainischen Analysten des Conflict Intelligence Teams (CIT). Trotz der horrenden Materialverluste im Ukraine-Krieg werde Wladimir Putins Rüstungsindustrie zugetraut, jährlich mehrere hundert Einheiten zu produzieren. Die Welt schaut gebannt darauf, wie viele T-90 Kampfpanzer Russland noch an die Front werfen könnte.

Laut Oleksandr Yan ginge das CIT davon aus, Russland könne bis zu 300 T-90 pro Jahr produzieren, also prinzipiell einen alle eineinhalb Tage. Damit stellen die Analysten den Einschätzungen beispielsweise von Michael Gjerstad infrage. Gjerstad urteilt in seiner Studie von Mitte 2024 für den Thinktank International Institute for Strategic Studies (IISS): „Russische T-90M-Produktion: weniger als es zunächst den Anschein macht.“ Der Analyst rechnet vor, dass seit der Invasion Anfang 2022 mindestens 13 Chargen T-90M ausgeliefert worden seien. Gjerstad vermutet aufgrund von Zahlen des russischen Militärs und von Analysten, dass jede Charge zwischen elf und 15 Panzern umfasst haben sollte. Insgesamt wären das weniger als 200 Einheiten.

Besatzung eines T-90M Proryv-Panzers an der Krasny-Liman-Front in der Ukraine.Hoffnungsträger und Riesenenttäuschung gleichermaßen: Besatzung eines T-90M Proryv-Panzers der 25. Kombinierten Armee der Zapad West-Gruppe der russischen Streitkräfte während einer Militärmission an der Krasny-Liman-Front in der Ukraine. Wie viele Exemplare kann Russland noch an die Front werfen? © IMAGO/Alexander RekaExperten streiten über Putins Rüstungs-Potenz: „Solange der Vorrat reicht oder doch viel mehr?

Das CIT rechnet großzügiger: „Seit Kriegsbeginn wurden mindestens 540 bis 630 T-90M-Panzer hergestellt – sowohl Neubauten als auch modernisierte Fahrzeuge. Über 130 dieser Fahrzeuge wurden zerstört, sodass schätzungsweise noch 410 bis 500 im Einsatz sind – etwa 15 Prozent der an der Front eingesetzten Panzer.“ Laut Schätzungen der Analysten habe die russische Armee zu Beginn des völkerrechtlichen Überfalls auf die Ukraine allein vom Modell T-90M über 65 bis 85 Exemplare verfügt. Darüber hinaus bis zu 420 ältere Varianten – mehrere Dutzend davon seien auf den M-Standard modernisiert worden.

„Die Reserven an T-80 und neueren T-72 gehen zur Neige, aber es gibt immer noch 1.100 T-62, die auf ihre Restaurierung und eine zweite Chance warten, Krieg zu führen.“

„Folglich dürfte die Gesamtzahl der älteren Varianten 370 bis 380 Einheiten betragen, und die Gesamtzahl der T-90-Panzer aller Modifikationen lag bei etwa 435 bis 465“, so das Ergebnis der Analyse. Die Analysten kommen zu einer anderen Schlussfolgerung als IISS-Wissenschaftler Gjerstad sowie Pavel Luzin, der Mitte 2024 gegenüber dem britischen Economist von einem ähnlichen Ergebnis spricht wie Gjerstad. Der Analyst des Thinktanks Center for European Policy Analysis (CEPA) geht davon aus, Russland könne den Ukraine-Krieg lediglich führen, „solange der Vorrat reicht“, wie der Economist getitelt hat.

Laut dem CIT sei das aber kaum abzusehen: „Basierend auf den zuvor präsentierten Daten halten wir diese Einschätzung für falsch. Wir glauben, dass die Produktionsrate des T-90M deutlich höher ist, dass das Verhältnis von neu gebauten Panzern zu modernisierten Fahrzeugen niedriger ist und dass die Verfügbarkeit älterer Panzer nicht die Produktionskapazität des Werks bestimmt“, schreiben sie in ihrer aktuellen Studie.

Russland wohl weniger mächtig als vermutet: Mühe, „auch nur 100 T-90M pro Jahr fertigzustellen“

Was allerdings wiederum andere vermeintliche Experten in Zweifel ziehen. Wie das Magazin Trench Art schreibt, würde ein Analyst und ehemaliger britischer Geheimdienstoffizier davon ausgehen, dass die Berechnungen Gjerstads richtig seien. Laut Trench Art ginge Sergio Miller davon aus, „dass Russland Mühe hat, auch nur 100 T-90M pro Jahr fertigzustellen – und dass die meisten der tatsächlich fertiggestellten Fahrzeuge eher modernisierte T-90A als völlig neue Fahrzeuge sind“, wie er zitiert wird – wobei der Unterschied im Kampfwert vielleicht eher als gering zu beurteilen ist zwischen aufgebesserten 90A zu von vornherein konstruierten 90M.

Die Unterschiede zwischen der zweiten Generation des T-90 mit der Bezeichnung „A“ und dem Putinschen Paradepanzer T-90M 2017 Proryw-3 („Durchbruch-3“) bestehen in der Feuerkraft sowie im Schutz-Niveau. Panzer des Typs 64 beispielsweise sind 1967 in Dienst gestellt worden, der Typ 90 ist 25 Jahre jünger. Aber, so Ralf Raths: „Die Panzer, die da durch die Gegend rollen, sind nicht so verschieden, wie das ihre T-Nummern andeuten.“ Welches Baujahr auf welches treffe, sei seiner Meinung nach wenig gefechtsentscheidend. „Die Modelle, die da herumfahren, gehören alle zu einer Familie, mit nur kleinen Entwicklungsschritten zwischen den unterschiedlichen Nummern“, wie der Direktor des Deutschen Panzermuseums in Munster in seinen Youtube-Beiträgen erläutert.

Tatsächlich halten sich in der militärhistorischen Debatte zwei grundsätzliche Schulen: die der Technikhörigen gegen die der Pragmatiker. Bereits im Zweiten Weltkrieg hatte der russische T-34-Panzer die deutschen Soldaten geschockt, weil er mit Innovationen gepunktet hatte und gegen die zu der Zeit häufig eingesetzten mittleren Panzerkampfwagen IV technisch überlegen gewesen war. Wie Johann Althaus in der Welt erinnert, war aber das Gegenteil von Überlegenheit zu beobachten: „Warum? Generalstabschef Franz Halder erklärte es nach 1945 so: „Die Ausbildung der sowjetischen Fahrer war unzureichend.“

Verluste für Putin gering? Genug Reserven, „um jedes Jahr mindestens ein Panzerregiment auszurüsten“

Auch Museumsdirektor Raths beurteilt die Qualität der Technik lediglich im Verhältnis zur Qualität der Bedienung. Für den Militärhistoriker zählt der menschliche Faktor um so mehr: Ausbildung der Truppe, Führung und Moral. Zumal Anfang 2024 bekannt geworden war, dass ein US-amerikanischer Bradley-Schützenpanzer der Ukraine allein aufgrund des Wagemuts der Besatzung einen russischen T-90-Panzer ausgeschaltet hatte – ein Ding der Unmöglichkeit ausgehend allein von der Papierform. Ein Ereignis, das aber tatsächlich möglicherweise so spektakulär wie einzigartig ist. Der Kriegsalltag sieht anders aus.

Wie David Axe aktuell in der Euromaidan Press schreibt, behaupte das CIT, Russlands Ausstoß an Panzern reiche aus, „um jedes Jahr mindestens ein Panzerregiment auszurüsten“. Andere Beobachter äußern sich dahingehend, dass das möglicherweise stimmen könnte, diese Panzer dann aber eine mindere Qualität aufwiesen. Was könnte Russland allein mit Mengen also bewegen? Aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Drohnen-Technologie traut sich selbst im Ukraine-Krieg keine Panzerbesatzung mehr über offenes Feld, und ob eine Panzer-Armee auf die Nato zurollen wollte, scheint mehr als fraglich. Eines haben die westlichen Analysten gemein: Ihnen fehlen die Fakten.

„Anhand der verfügbaren öffentlichen Beweise ist unklar, wer Recht hat“, schreibt David Axe. Insofern ist die Produktionsrate von Rüstungsgütern möglicherweise zweitrangig, weil Putin wohl kaum allein deshalb klein beigeben würde, weil ihm Panzer ausgingen. Jedenfalls hat er offenbar noch genug Panzerwracks im Depot, um Feuerkraft an die Front zu werfen. Laut Seth G. Jones und Riley McCabe scheine wichtig zu sein, welchen Gesamtpreis Russland für welches Ergebnis zu entrichten habe.

Landgewinn für Putin enorm kostspielig: Russland hat einen außerordentlich hohen Blutzoll dafür bezahlt

„Russland hat einen außerordentlich hohen Blutzoll dafür bezahlt, dass es seit Januar 2024 weniger als ein Prozent des ukrainischen Territoriums erobert hat“, schreiben die beiden Analysten des US-Thinktanks Center for Strategic and International Studies (CSIS). Panzer haben zuletzt in den Vormärschen an den verschiedenen Fronten eher eine untergeordnete Rolle gespielt. Ihre frühere, gefechtsfeldbeherrschende Position haben inzwischen Drohnen übernommen; vor allem, weil sich aufgrund der Drohnendominanz weit greifende Operationen mit größeren Kampfpanzer-Verbänden verbieten, und der einzelne Panzer im Gefecht schwer zu schützen ist.

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Seit Kriegsbeginn ist Russlands Bereitschaft zu hohen Verlusten im Gegenzug zu Raumgewinn ungebrochen. Demgegenüber vermissen Jones und McCabe ein Erfolg versprechendes Verhältnis beider Parameter in der russischen Logik – dafür wehrt sich die Ukraine zu erfolgreich. Wie viele T-90 Russland auch nachschieben könnte, ihnen würde sowohl die Quantität als auch die Qualität ursprünglicher Einheiten fehlen, vermuten die beiden Analysten. Seit Januar 2024 habe Russland riesige Mengen an Ausrüstung für wenige Meter Boden verpulvert – Jones und McCabe zufolge sei Russland vielleicht noch in der Lage, seine eroberten Gebiete zu halten anstatt mehr Boden gut zu machen.

Diese Einschätzung teilt auch Forbes-Autor David Axe, der beobachtet, dass Russland in seinen Beständen auf immer frühere Modelle zurückzugreifen gezwungen ist: „Die Reserven an T-80 und neueren T-72 gehen zur Neige, aber es gibt immer noch 1.100 T-62, die auf ihre Restaurierung und eine zweite Chance warten, Krieg zu führen.“