Nach Brandenburg fährt man wegen der Landschaft, wegen der historischen Stadtkerne, nicht so sehr wegen der Küche, vor allem aber wegen der Ruhe. Als Städter hat man sie auch manchmal dringend nötig.

In meiner Berliner Stadtwohnung ist der Lärm allgegenwärtig. Unter mir liegt die Heavy-Metal-Kneipe „Killers“, über mir ist der Auspeitschsalon „Chez Uschi“. Von oben höre ich laute Schreie, von unten höre ich laute Schreie mit Schlagzeugbegleitung. Auf der Straße rumpelt die Straßenbahn, und an Sommerabenden hört man die bellenden Unterhaltungen der Berliner und das kehlige Lachen der spanischen Touristen durch die Straßenschlucht hallen.

Grundsätzlich mag ich diese Geräusche, denn sie zeugen von Leben und sagen mir, dass die Welt noch nicht untergegangen ist. Ganz anders in meinem Havelländer Zweitwohnsitz. Hier hört man alle paar Stunden mal ein Geräusch, meist das Auto eines Nachbarn, höchstens mal einen Hund. Natürlich ist diese Ruhe unglaublich entspannend. Sie hat aber auch negative Effekte.

Dieser Artikel stammt aus der neuen Ausgabe des Brandenburg-Magazins (168 Seiten Ausflugstipps, 10,80 Euro).

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Zum einen wird man leicht paranoid. Geräusche, die mich in Berlin völlig kaltlassen, sorgen in Brandenburg dafür, dass ich ans Fenster gehe und Sätze sage, die ich sonst nur von meiner Großmutter kannte: „Was ist denn da draußen für ein Radau? Das ist doch sonst nicht!“

Einmal wurde ich spätabends durch Stimmen und Motorengeräusche vor meinem Grundstück alarmiert. Ich lugte durch die Vorhänge und sah auf der Straße zwei Autos und fünf Leute stehen – für Brandenburger Verhältnisse schon eine Zusammenrottung. Ich machte überall Licht, griff zum Schürhaken, öffnete die Haustür und dachte: „Ich weiß nicht, wer ihr seid und was ihr hier zu suchen habt, aber das ist mein Haus, und ich bin bereit, es zu verteidigen.“

Tatsächlich war es nur der Sohn der Nachbarn, der von seinen Freunden nach Hause gebracht wurde. Er sah mich an, rief mir zu: „Wat stümpt‘n mit dir nich‘?“, und ich verzog mich kleinlaut wieder in mein Häuschen.

Der Autor

Tilman Birr ist Schriftsteller, Musiker und Kabarettist. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Wie sind Sie hier reingekommen?“, Satyr Verlag 2023.

Zum anderen wird man in der Ruhe schnell wunderlich. Wenn kein Geräusch einen von der Existenz der Welt überzeugt, macht man sich das Geräusch halt selbst.

So stehe ich manchmal singend im Wohnzimmer, spiele laut halbe Loriot-Sketche mit mir selbst nach oder brülle meinen Computer an, wenn er mal wieder unverständliche Fehlermeldungen zeigt. Das alles passiert unbewusst, ich kann nichts dafür, es ist die Bewältigungsstrategie eines akustisch unterforderten Geistes.

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Leider schleift sich dieses Verhaltens-Laisser-faire schnell ein, und wenn ich nach einer Woche nach Berlin zurückkehre, erwische ich mich dabei, wie ich auf der Straße „Griechischer Wein“ vor mich hinsinge oder im U-Bahnhof mein Handy beschimpfe, weil die BVG-App mal wieder nicht lädt.

Die Berliner laufen an mir vorbei und denken: „Schon wieder so‘n Kloppi, naja, ignorieren, weitajehn.“ Ich möchte allen Menschen in Berlin sagen: Nein, nein, ich bin nicht bekloppt. Ich war nur eine Woche allein in Brandenburg.