„Und die Mittagspause? Wann machen Sie die?“, fragt die Mitarbeiterin des Automobil-Museums im elsässischen Mülhausen entgeistert. Die aus Paris angereiste Journalistin wollte nämlich gleich am selben Tag wieder zurückfahren. Doch ein Snack im Schnellzug TGV erscheint der Französin als „pause midi“ alles andere als angemessen.
Auch Stéphane Brass, Co-Geschäftsführer von inzwischen mehreren „Sürpriz“-Restaurants in Paris, begegnete der französischen Abneigung, der Nahrungsaufnahme nicht die angemessene Zeit und Ruhe zukommen zu lassen. Als er 2019 anfing, seinen Döner als typischen „Berliner Kebab“ zu verkaufen, wollte er alles genauso machen, wie er es aus Deutschland kannte, erzählt er: „Es sollte den schnellen Döner auf die Hand geben, ohne Schnickschnack und höchstens noch mit einem Getränk.“ Doch er merkte, dass dieses Konzept in Frankreich nicht hundertprozentig ankam und ließ sich auf einen Kompromiss ein: Nun bietet er auch Pommes und ein Dessert dazu an. Seine gelernte Lektion: „In Frankreich wollen die Leute sich beim Essen hinsetzen.“ Und: „Sie möchten ein Menü.“
Ein Fischbrötchen im Stehen? Was für ein Fauxpas von Bundeskanzler Scholz!
Diese Information fehlte dem früheren Bundeskanzler Olaf Scholz, als er im Oktober 2023 im Rahmen eines locker gemeinten Gesprächsformats in Hamburg den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dessen Ehefrau Brigitte nicht klassisch ins Restaurant ausführte. Stattdessen ließ er ihnen kalte Fischbrötchen in die Hand drücken, die sie im Gehen verzehrten. Die verzogenen Mienen der Gäste angesichts dieses kulinarischen Fauxpas sprachen Bände, Karikaturisten widmeten sich ihnen ausgiebig.
Tatsächlich lernen bereits die Teilnehmer von interkulturellen Trainings, die Deutsche auf die Arbeit mit Franzosen vorbereiten und andersherum, dass schnelle Buffets im Stehen, um effektiv zu sein, Zeit zu sparen und sie nicht beim Essen zu verplempern, in Frankreich nicht gut ankommen. Das gilt nicht nur als respektlos. Die gepflegte gemeinsame Mahlzeit dient auch der Bindung, dem Schaffen von Vertrauen und dem Besprechen wichtiger Themen. Der interkulturelle Trainer Pierre de Bartha sagte es bei einem Seminar für die Deutsch-Französische Industrie- und Handelskammer so: „Die Unterschrift kommt in Frankreich oft beim Dessert.“ Dann war der Deal perfekt und das vermeintliche Vergeuden von Zeit am Esstisch erwies sich als effektiv.
Auch in einfachen Milieus gehört ein Essen mit Menüfolge dazu
Die hohe Bedeutung, die in Frankreich dem Genuss bei Tisch zukommt, vor allem dem gemeinschaftlichen, ist mehr als eine Marotte. Sie ist eine kulturelle Gemeinsamkeit, die alle gesellschaftlichen Schichten betrifft. Ein Essensritual mit Menüfolge gehört auch in einfachen Milieus dazu. Parisern, die auf der Straße oder im Bus in ihr Sandwich beißen, begegnet man selten; wenn, dann sind es ausländische Bewohner oder Besucher. Daraus erklärt sich auch, dass nur in Touristen-Gegenden die Küche in Restaurants ganztägig geöffnet ist. Französinnen und Franzosen essen gern zu festen Uhrzeiten. Angestellte erhalten Essensgutscheine in Höhe von knapp zehn Euro pro Arbeitstag von ihren Unternehmen, welche rund die Hälfte davon übernehmen. Das verhilft ihrem Personal zu einer ordentlichen Stärkung – und den Restaurants zu Kunden. Als es infolge der Inflation ab 2022 erlaubt wurde, diese „Restaurant-Tickets“ auch in Supermärkten einzusetzen, protestierten die Gastronomen.
Essen ist in Frankreich immer auch politisch – deshalb wird stets das Verhältnis der Präsidenten dazu genau beäugt. An Jacques Chirac erinnert man sich liebevoll als Genussmenschen, der bei allem Verzehrbaren beherzt zugriff, am liebsten bei Kalbskopf. Sein Nachfolger Nicolas Sarkozy galt als Banause, weil er in seiner Zeit als Präsident im Élysée-Palast den kalorienreichen Käsegang abschaffte und stattdessen riesige Mengen fettarmen Quarks verzehrte – und trotz seines Schlankheitswahns viele Schokoriegel. Der aktuelle Staatschef Emmanuel Macron wiederum versicherte, zweifellos mit Blick auf die Gunst der französischen Winzer, er trinke mittags und abends Wein. Seine Frau ließ wissen, sie bereite ihm gerne mal ein einfaches Omelette zu. Der Kommunist Fabien Roussel stieg während des Präsidentschaftswahlkampfs 2022 selbst im Ansehen überzeugter Anti-Linker dank der Aussage, „ein guter Wein, ein gutes Fleisch, ein guter Käse“, das sei für ihn die französische Gastronomie. Dieses bodenständige Plädoyer für französische Qualitätsprodukte, die allen zugänglich sein sollten, brachte ihm ein paar zusätzliche Prozentpunkte ein.
Essen als Weltkulturerbe: Unesco sieht ein „soziales und kulturelles Ritual“
2010 setzte die Weltkulturerbe-Organisation Unesco das „gastronomische Mahl der Franzosen“ auf ihre Liste der immateriellen Kulturgüter mit der Begründung, es handle sich nicht nur um eine Aufeinanderfolge von Speisen, sondern um ein „soziales und kulturelles Ritual, das das Leben der Französinnen und Franzosen strukturiert“. Dazu gehörten demnach ein formalisierter Ablauf – Aperitif, Vorspeise, Hauptspeise(n), Käse, Dessert, Digestif. Die Kunst, Speisen und Getränke geschmacklich aufeinander abzustimmen. Die Wertschätzung qualitativ hochwertiger, lokaler Spezialitäten. Eine wichtige soziale Rolle des gemeinsamen Speisens und eine sorgfältige Präsentation. Diese Kunst wird laut Unesco „von Generation zu Generation als fester Bestandteil ihrer Identität weitergegeben“. Es war das erste Mal, dass die Unesco eine kulinarische Leistung als immaterielles Welterbe würdigte. Es ist ja kein Zufall, dass die berühmtesten Köche der Welt wie Paul Bocuse oder Alain Ducasse aus Frankreich stammten und die französische Küche über Jahrhunderte als die beste der Welt galt.
Stundenlange Mittagspausen mit Wein werden auch in Frankreich seltener
Und doch bleibt diese Kultur nicht stehen, sagt Jean-Charles Schamberger, auf Gastronomie spezialisierter Journalist und Chefredakteur der Branchenzeitung Zepros. „Zum einen ändern sich Gewohnheiten: Stundenlange Mittagspausen mit viel Wein, für die wir ja so bekannt sind, werden seltener“, sagt er schmunzelnd. Einer Erhebung zufolge hat sich diese drastisch verkürzt, von im Durchschnitt mehr als eineinhalb Stunden 1975 auf lediglich noch 47 Minuten im Jahr 2024. Im internationalen Vergleich bleibt Frankreich in dieser Hinsicht trotzdem auf einem Spitzenplatz. Auch sagten zwei von drei Französinnen und Franzosen in einer Studie des Unternehmens Edenred, bei der Arbeitnehmer in 14 Ländern miteinander verglichen wurden, sie ließen sich eine ordentliche Mittagspause nicht nehmen. Dafür bleiben sie manchmal abends länger im Büro.
Auch das Angebot vor allem in Paris entwickelt sich Schamberger zufolge ständig weiter, neue Trends kommen auf. „Aktuell gibt es immer mehr Luxus-Food-Trucks und viele Sterneköche probieren sich bei Streetfood in höheren Preisklassen aus.“ Insgesamt finde eine Beschleunigung statt, der Rahmen werde lockerer, die internationalen Einflüsse nehmen zu. Als Beispiel für ein neues Konzept nennt der Experte das demnächst dreiteilige Restaurant „À la Source“ („An der Quelle“) des ehemaligen Kochs im Sterne-Restaurant des Luxushotels Ritz, Nicolas Sale. Es befindet sich im weltgrößten Großmarkt für Lebensmittel in Rungis bei Paris. In einem Bereich können Gäste in der offenen Küche selbst in die Töpfe blicken, die Zutaten kommen frisch vom Markt. In einem exklusiven Mini-Restaurant mit höchstens zwölf Gedecken nehmen sie demnächst mitten in der Küche Platz, in einem „Streetfood-Container“ soll es Speisen „to go“ geben, die im Garten und auf Bänken verzehrt werden können. „Das ist insgesamt ein origineller Ort, der zeigt, wie sehr der Rahmen immer wieder neu gesprengt wird“, so Schamberger. Essen ist gleichbleibend wichtig, neue Trends verändern die Art, es zu präsentieren oder zuzubereiten.
Wer einem Stück Käse nicht mit Respekt begegnet, zieht sich den Zorn der Franzosen zu
Das ist auch ein Thema im Buch „Das Camembert-Diagramm“ (Rowohlt Verlag) der Journalistin Nadia Pantel, die von 2018 bis 2022 Frankreich-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung in Paris war. In ihrem Werk blickt sie auf das Land durch die kulinarische Brille. Irgendwann, so Pantel, sei ihr aufgefallen, dass bei ihren Berichten Essen ständig eine Rolle spielte. Mal musste ein ranghoher Politiker zurücktreten, weil er Gästen in der Nationalversammlung auf Kosten des Steuerzahlers Hummer vorgesetzt hatte, dann wieder schrieb sie über einen Bäcker, der durch einen Hungerstreik das Bleiberecht für seinen Lehrling aus Mali erkämpfte. „Dabei ging es nie um Rezepte oder Gartechniken, sondern immer um politische, gesellschaftliche Fragen“, so Pantel. „Nur schienen sich diese Fragen ein ums andere Mal auf dem Teller zu verdichten.“
Inzwischen verstehe sie die „Mischung aus Rührung und Stolz“, mit der man in Frankreich auf die Bauern blicke und deren Proteste unterstütze – sie verteidigten ein kulturelles Gut. Der Grundstein für das besondere Verhältnis zum Essen wird Pantel zufolge schon in der Vorschule gelegt, wo das Menü in der Kantine sich liest wie die Speisekarte eines gehobenen Restaurants. Als Tochter eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter und von ihren „jährlichen Fressurlauben als Kind“ bei den Großeltern in Südfrankreich wisse sie, dass eines Massakers bezichtigt werde, „wer einem Stück Käse nicht mit Respekt und exakten Messerschnitten begegnet“. Und dass das republikanische Prinzip der Égalité, der Gleichheit, auf alle, die gut essen wollen, anzuwenden sei.
Auch auf die Einwanderer, die längst die französische Küche mitprägen, wie die Menschen aus dem Maghreb, die den Couscous eingeführt haben – oder wie der Sternekoch Mory Sacko. Der 32-jährige Sternekoch, der durch die Sendung „Top Chef“ berühmt wurde, ist in einem Pariser Vorort geboren, hat familiäre Wurzeln in Mali und im Senegal und keine Scheu, alle Einflüsse zu kombinieren. Bei ihm gibt es „Boeuf Mafé“, also Rind mit einer westafrikanischen Erdnusssoße, und Adlerfisch mit fermentierter Maniokwurzel. In Frankreich gehe es beim Kochen um Verwurzelung, um nationale Identität, so zitiert Pantel Sacko, gleichzeitig gebe es „eine sehr offene Gesellschaft, in der man sich durchmischt“. Obwohl er von sich sagt, er wolle sich nicht politisch äußern, zeigt auch dieser Satz, wie gesellschaftlich relevant das Essen ist. Es sei, sagt Sacko, „eine Grundfrage unserer Zeit, ob man sich bedroht fühlt, wenn Neues hinzukommt, oder ob man das als Bereicherung sieht“.
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Birgit Holzer
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