Brille, Bob, dazu eine runde Retro-Brille. Allein auf großer Bühne im Muffatwerk. Mit schwingender Hand spricht Sina Bahr, 26, von „regenbogenbunten Gummistiefeln“, vom eigenen Queersein: „Hab’ viel zu lang nicht gewusst, wer ich bin.“ Ruhig tut sie das, mit einem Lächeln – und doch eindringlich: Bahr wünscht sich Vorbilder, dass endlich „diese Blase“ platzt.
Beim Isar Slam wird für sie, wie für die anderen neun Teilnehmenden, geklatscht. Wer den lautesten Applaus bekommt, gewinnt. Die amtierende Münchner Stadtmeisterin Sina Bahr ist es an diesem Abend nicht. Sie hat gerade viel über sich preisgegeben, offen gesagt, was sie bewegt. Tut es da nicht weh, wenn für andere lauter geklatscht wird?
„Ich würde niemals einen schlechten Applaus persönlich nehmen“, sagt Bahr. Aber wieso nicht? Gewinnen komme beim Poetry-Slam auf so viele Faktoren an: Was für Leute sind da, als wievielte Person kommt sie dran (das wird gelost), und so weiter. „Es macht nichts mit meiner Kunst, wenn ich einen Poetry-Slam nicht gewinne“, sagt sie aus einer tiefen Überzeugung heraus, dass Kunst ohnehin nicht vergleichbar ist.
Poetry-Slam kann gefühlvoll, lustig oder meinungsstark sein. Bahrs Texte über Kindheit, Verlust oder Liebe sind bisher klar in der ersten Kategorie zu verordnen. Sie, die 2022 erstmals eine Poetry-Slam Bühne betrat, berührt mit nahbaren Geschichten.
Was treibt sie an, ihre Texte zu schreiben, die teils auch als Gedichtbände (erschienen im Selbstverlag) oder auf Instagram nachzulesen sind? „Es war für mich schon immer sehr heilend zu schreiben. Wenn ich meine Gedanken in eine schöne Form gießen kann, dann fühlen sie sich da gut aufgehoben an“, sagt sie. Das bedeutet auch, dass es eine Menge fremde Menschen gibt, die sehr private Dinge über sie wissen. Sie sagt: „Es ist komisch, aber irgendwie stört mich das so gar nicht.“ Schon früh habe sie gelernt, offen über die eigenen Gefühle zu reden.
Ohne Hemmungen ist Bahr allerdings nicht: Auf der Bühne lustig sein? „Das traue ich mich überhaupt nicht“, sagt sie. Sie sei noch mit der Fehlannahme aufgewachsen, dass vor allem Männer lustig seien. Viele lustige Frauen haben dieses Bild mittlerweile aufgebrochen. Und trotzdem: „Ich habe oft das Gefühl, wenn ich einen auf lustig mache, dann ist das irgendwie cringe.“ Manch eine sexistische Prägung sitzt einfach sehr tief – so gern Bahr die ihre auch loswerden will.
„Es macht nichts mit meiner Kunst, wenn ich einen Poetry-Slam nicht gewinne“, sagt Sina Bahr. Im November 2024 allerdings war sie die Siegerin bei der Münchner Stadtmeisterschaft im Poetry Slam im Volkstheater. (Foto: Robert Haas)
Und noch etwas hat sie sich lange beim Poetry-Slam nicht getraut: politisch meinungsstark zu sein. Das ändert sich gerade. Viel Privates, das sie beschäftigt, lasse sich kaum vom Politischen trennen, ist oft im queer-feministischen Bereich zu verorten. Bahrs Angst aber war groß, sich angreifbar zu machen: „Wenn ich einen gefühligen Text mache, können Menschen ihn nicht gut finden, aber niemand wird mich dafür angreifen.“ Wer nun aber aus den eigenen Erfahrungen auf systemische Probleme schließt und Änderungen fordert, dem dürfte die ein oder andere Person widersprechen.
Sina Bahrs Angst vor Gegenwind ist noch da. Trotzdem will sie sich trauen. Der „Bayern Slam“ Ende Mai war ausschlaggebend: „Da sind so tolle Menschen aufgetreten, die so krass den Finger in die Wunde gelegt haben.“ Bahr selbst kam ins Finale und hatte dafür schon einen für sie typischen, gefühligen Text parat. Stattdessen sprach sie auf der Bühne darüber, wie toll sie das findet, was sich all diese anderen Menschen trauen. „Wenn eine Person sowohl behindert als auch trans ist und sich immer wieder auf Bühnen traut, dann macht das einfach krass was mit mir“, sagt Bahr. Sie gewann nicht, aber darum geht es ihr ja nicht.
Aus dieser Idee heraus entstanden die „regenbogenfarbenen Gummistiefel“. In dem Text geht sie von der persönlichen Ebene, dem eigenen Queersein, über in eine systemische, kritische Ebene: Die Welt brauche dringend ein Update. Hoffnung. „Vielleicht macht das ja was mit jemandem.“ Damit das gelingt, möchte sie die emotionale Note beibehalten. Menschen bräuchten einen „Beispielmensch“, eine Person, deren Gefühle sie kennenlernen, für die sie Sympathie entwickeln. Wer berührt, dem wird zugehört – und Berühren, das ist die große Stärke von Sina Bahr.
Das hat unter anderem ihr Sieg vergangenen November bei den Münchner Stadtmeisterschaften im Poetry-Slam gezeigt. Sie sei gar nicht davon ausgegangen zu gewinnen. Eine Floskel? „Ich habe den ersten Startplatz zugelost bekommen und dachte: ‚Geil, dann mache ich mir danach an der Bar einen entspannten Abend‘“, sagt sie. Die letzten Startplätze sind beim Poetry-Slam besser, weil diese Auftritte dem Publikum vor der Abstimmung noch besser im Gedächtnis sind. Bahr wurde ins Finale gewählt. Einen zweiten Text hatte sie sich dafür nicht überlegt. Sie wählte einen Text, den sie noch nie auf einer Bühne vorgetragen hat – äußerst unüblich. „Ich habe den einfach so krass gefühlt“, sagt sie. Das Stück handelte von einer verstorbenen Person. Sie gewann: „Ich war auf Wolke achtzigtausend.“
Musik und RomaneVielleicht irgendwann auf Tour: Sina Bahr und Marc Hinrichsmeyer als Musikduo „mitte mai“. (Foto: Marc Hinrichsmeyer)
Und nun? Was ist das nächste Ziel? Sina Bahr ist froh darüber, wo sie schon angekommen ist. Mehr müsse es gar nicht sein im Poetry-Slam. Etwas größere Ambitionen hat sie mit anderen Projekten: Als Musikduo „mitte mai“ tritt sie mit einem engen Freund zusammen auf und träumt davon, irgendwann eine kleine Tour zu spielen. Außerdem hat sie Romane geschrieben, deren Manuskripte sie zurzeit bei einem Verlag unterzubringen versucht.
Poetry-Slam, Romane, Musik. Obwohl Bahr künstlerisch in drei verschiedene Richtungen arbeitet, hat sie noch einen Teilzeitjob als Redakteurin bei dem Kulturmagazin „Rausgegangen“ in München. Davor ging sie ein Jahr lang all ihren Nebentätigkeiten nach und arbeitete gleichzeitig Vollzeit. Oder anders gesagt: „Ich hatte ein Jahr lang Schlafmangel.“ Auf Dauer gehe das nicht, aber ein festes Einkommen ist ihr genauso wichtig wie die künstlerische Vielseitigkeit: „Wenn ich nur eine Sache hätte, in die ich so viel hineingebe, würde die Kreativität irgendwann stagnieren.“
Wenn Sina Bahr nicht eigene Kultur schafft, geht sie gern zu Kulturveranstaltungen anderer. „Kultur schafft Räume, in denen Menschen wütend sein können und von allen möglichen Leuten gehört werden“, sagt sie. „Diesen Anknüpfungspunkt, den Kultur zum Umgang mit dem riesigen Weltschmerz bietet, sollte man nicht unterschätzen.“
Bahr geht gern zu Konzerten von unbekannten Künstlerinnen und Künstlern. „Die trauen sich noch, wirklich das zu machen, worauf sie gerade Bock haben“, sagt sie. Viel Inspiration holt sie sich auch in der „Slamily“, wie sie die Poetry-Slam-Community nennt. Sina Bahr muss und will gar nicht nach oben schauen, zu irgendwelchen großen Vorbildern. Ihr genügt der Blick zur Seite, zu Gleichgesinnten.