Vor dem Besuch Präsident Selenskis in Washington wachsen die Befürchtungen in der Ukraine. Vieles deutet darauf hin, dass die USA das Land zum Verzicht auf Territorien drängen wollen. Doch die wenigsten Ukrainer glauben, dass dies Frieden bringen wird.
Vor der amerikanischen Botschaft in Kiew protestiert eine Ukrainerin gegen die Forderung nach einem Gebietsverzicht zugunsten Russlands.
Maxym Marusenko / Imago
Die Berichte vom russisch-amerikanischen Gipfeltreffen in Alaska haben die 68-jährige Marina Lutiwinowa erschüttert. «Die Welt ist verdorben», sagt sie. «Meine Befürchtungen haben sich bestätigt: Man treibt mit uns ein geopolitisches Spiel. Trump ist eine Marionette.» Kurz vor dem Gipfel hatte die Ukrainerin noch mit Dutzenden anderen Demonstranten vor der amerikanischen Botschaft in Kiew demonstriert. Gebietsabtretungen an Russland seien inakzeptabel, machten die Kundgebungsteilnehmer klar. Doch jetzt wirkt Lutiwinowa resigniert. Auf Whatsapp ersetzt ein weinendes Emoji ihr Profilbild.
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In den ukrainischen Medien und sozialen Netzwerken dominiert eine fast einhellige Reaktion. Das Gipfeltreffen in Alaska ist ein Schock. Russland bleibt bei seinen Maximalforderungen, während die Kämpfe an der Front und die Angriffe mit Drohnen und Raketen Nacht für Nacht weitergehen. Geblieben sind die Bilder des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, der dem russischen Machthaber Wladimir Putin auf dem roten Teppich applaudiert.
Alles tun, um Trump nicht zu verärgern
Das politische Kiew gibt sich nach dem Treffen zurückhaltend. In diesen Tagen gilt, da ist man sich mit den europäischen Partnern einig, ein ungeschriebenes Gesetz: Trump darf man nicht verärgern. Das Ziel besteht darin, ihn auf die Position zurückzuführen, die er einst selbst vertreten hatte: die Forderung, dass ein Waffenstillstand und ein Ende des Tötens Voraussetzung jedes Gesprächs sein müssten. Präsident Wolodimir Selenski betonte in einer Pressekonferenz am Sonntag, die Grundlage von Friedensverhandlungen könne nur die aktuelle Frontlinie sein. Indirekt sagt er damit, dass er keinen einseitigen Verzicht gutheissen kann.
Doch der ukrainische Politologe Wolodimir Fesenko vom Zentrum für politische Studien Penta sieht wenig Anlass für Optimismus. Alles deute darauf hin, dass Trump unter Putins Einfluss nun weitere ukrainische Zugeständnisse wünsche. «Für Putin war das Treffen in Alaska ein Erfolg, für die Ukraine eine Schande, eine Blamage.»
Laut amerikanischen Medienberichten hat Trump europäischen Partnern erklärt, er halte einen Frieden für möglich, wenn die Ukraine bereit sei, Gebiete im Osten aufzugeben. Für den Militärexperten Mikola Beleskow von der regierungsunabhängigen Organisation Come Back Alive wäre das ein «teuflischer Tauschhandel». Selenski stehe nun vor einem Dilemma. «Wenn Selenski dem zustimmt, kann er in der Ukraine wegen Verletzung der Verfassung strafrechtlich verfolgt werden», sagt Beleskow. Lehnt er ab, hätte er nicht mehr nur Putin zum Feind, sondern wahrscheinlich auch Trump.
Militärisch sei ein schneller Rückzug aus dem Donbass ohnehin ausgeschlossen, sagt Beleskow. Nichts und niemand würde die russischen Truppen daran hindern, die sich zurückziehenden ukrainischen Truppen anzugreifen, sagt er, «das Wort Russlands hat keinen Wert». Das hat die Ukraine bereits in der Vergangenheit gelernt. Wochen vor Beginn der russischen Grossinvasion im Februar 2022 erklärte Putin scheinheilig, dass er einen Konflikt mit dem Westen und der Ukraine verhindern wolle.
«Die Russen werden immer noch mehr wollen»
Die Demonstrantin Marina Lutiwinowa glaubt deshalb, dass Russland selbst im Falle eines Abkommens schon bald erneut angreifen würde. Der Donbass wäre nur der Anfang, ist sie überzeugt. Später würden auch Saporischja und Cherson eingefordert, die beiden Südprovinzen, die 2022 ebenfalls nach einem Scheinreferendum illegal zu russischem Gebiet erklärt wurden und erst zu gut 70 Prozent unter Moskauer Kontrolle stehen. Doch die territorialen Ansprüche reichen noch weiter. «Die Russen werden immer noch mehr wollen», sagt Lutiwinowa.
Sie selbst stammt aus Cherson. Während der monatelangen russischen Okkupation vor drei Jahren hatte sie sich der Partisanenbewegung «Gelbes Band» angeschlossen. Heimlich befestigte sie gelb-blaue Bänder im öffentlichen Raum, als Zeichen des Widerstands. Nach der Befreiung durch die ukrainische Armee zog sie nach Kiew. Sie habe überlebt, sagt sie, doch der Preis, den ihre Familie zahle, sei hoch. Ihre 40-jährige Tochter und der 33-jährige Sohn kämpfen in der Armee. Der älteste, ebenfalls Soldat, ist verschollen; er verschwand im Frühjahr 2023 bei den Kämpfen um Bachmut.
Gebiete abzutreten bedeutet für Lutiwinowa, Russland zu belohnen. «Sagen Sie mir: Wenn ein Eindringling in Ihre Wohnung käme und sie Ihnen wegnehmen würde – würden Sie einfach zustimmen?» fragt sie. «Die Gräber unserer Eltern befinden sich in den Gebieten, über die verhandelt werden soll. Und unsere ganzen Erinnerungen hängen an diesen Orten.» Solange sich in der russischen Regierung und Gesellschaft nichts ändere, könne die Ukraine keine Zugeständnisse machen. «Wir müssen unsere Gebiete zurückholen. Unsere Leute sind noch dort. Sie warten auf Befreiung.»
«Vertraut Putin nicht» und «Druck auf Russland» lauten einige der Slogans von Demonstrantinnen vor der amerikanischen Botschaft in Kiew. Im Weissen Haus finden sie offenbar kein Gehör.
Maxym Marusenko / Imago