Der Journalist und Autor Henning Sußebach im Portrait

AUDIO: Henning Sußebach rekonstruiert das Leben seiner Urgroßmutter (53 Min)

Stand: 18.08.2025 08:44 Uhr

In seinem neuen Buch „Anna oder was von einem Leben bleibt“ folgt Henning Sußebach den spärlichen Spuren seiner Urgroßmutter. Bei NDR Kultur à la carte spricht er darüber, wie er mit Poesiealben, Kirchenbüchern, Wetterdienstdaten und Fotos eine Lebensgeschichte zusammengesetzt hat.

von Claudia Christophersen

Henning Sußebach schaut genau hin, schreibt über das, was er sieht, was ihn interessiert, was ihn packt. Das macht er in seinen Artikeln, die er als Reporter für die Wochenzeitung „Die Zeit“ schreibt oder in seinen Büchern. Sußebach sucht bei seinen Recherchen nicht immer nur die Fakten, er sucht auch das Abenteuer und vor allem die Geschichten. Das war so, als er vor ein paar Jahren zu Fuß durch Deutschland ging und die Reise ihn ins Hinterland führte. „Deutschland ab vom Wege“, so der Titel seines Buches 2017. Anderes Beispiel: Amir Baitar, aus Syrien geflüchtet, bekam bei Familie Sußebach ein neues Zuhause. Auch daraus entstand ein Buch.

Jetzt hat sich Henning Sußebach mit einer Frau beschäftigt, die er selbst nie kennengelernt, die ihn aber tief beeindruckt hat: Anna Kalthoff. Sie ist die Urgroßmutter von Henning Sußebach, der sich gefragt hat: Wer war diese Frau? Wie hat sie gelebt? Welches Schicksal ist ihr widerfahren?

Über eine Spurensuche in die tiefe, oftmals karge Vergangenheit und über die leidenschaftliche Sympathie für eine eigenwillige Frau spricht Henning Sußebach mit Claudia Christophersen in NDR Kultur à la carte.

Anna ist Ihre Urgroßmutter und bei Familienfesten wurde über diese Urgroßmutter geredet. Das ist alles lange her und trotzdem nicht gänzlich vergessen. Mündliche Überlieferung ist natürlich eine Schiene der Recherche, alles andere wurde dann schwieriger. Von Ihrer Urgroßmutter existiert nicht viel, kein riesiger Nachlass, keine Briefe, kein Tagebuch, aber ein bisschen haben Sie gefunden.

Henning Sußebach: Tatsächlich, es gab sehr wenige Ego-Dokumente, wie Historiker sagen, in denen sich die Person selbst äußert, wie beispielsweise in einem Tagebuch. Ich hatte nur zwei Postkarten, die Anna an andere Menschen schrieb. Die anderen Dokumente erzählten eher etwas über sie oder von ihr. Das waren zwei Poesiealben aus ihrer Kinder- und Jugendzeit, in die sich Freundinnen und später nach der Berufswahl Kollegen und Kolleginnen eintrugen, ein Verlobungsring, ein Kaffee-Tee-Service, in das ein Dienstjubiläum eingraviert ist und viel mehr war da nicht. Damit habe ich angefangen.

Und trotzdem sind Sie weit gekommen!

Sußebach: Ja. Ich dachte, ich war eigentlich schon zu spät dran. Je länger man wartet, desto mehr ist von einem Menschen verloren und ins Dunkel des Vergessens gerutscht. Das ist in der Tat auch so. Ich habe dann aber, finde ich, ein kleines Wunder erleben dürfen. Und zwar kommt uns diese Vergangenheit in den Zeiten der Digitalisierung wieder entgegen. Es sind Kirchenbücher digitalisiert, man kann auf Bestände von Museen und Archiven zugreifen. Wenn ich das Geburtsdatum und das Todesdatum eines Menschen habe, dann finde ich die Einträge der Eltern, was die von Beruf waren, Flurkarten aus Katasterämtern und plötzlich eröffnen sich Leben. Das war ein großes Such- und Findglück, zumal sich mit jedem Fund wieder zehn neue Türen öffneten. Ich habe weit mehr gefunden und rekonstruieren können, als ich anfangs dachte.

Im Moment ist es ein richtiger Hype sich mit Familiengeschichten zu befassen. Viele Menschen schreiben Bücher darüber, gehen in die Tiefenbohrung, versuchen ihre Familiengeschichte auf irgendeine Weise zu rekonstruieren. Das sind imaginäre Zeitreisen, es entstehen Bücher und Romane. „Autofiktional“ ist so ein Wort, das gerade sehr gängig ist. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Sußebach: Ja, ich glaube, es gibt mehrere Erklärungen. Die eine ist, dass jeder Mensch irgendwann wissen will, in welcher Kette er steht. Ich fürchte, es ist auch ein Zeichen für eine alternde Gesellschaft, dass viele Menschen in ein Alter vorrücken, in dem man sich mal umguckt. Ich glaube, in einer Gesellschaft, in der das Durchschnittsalter bei 25 Jahren liegt, wäre das nicht der Fall. Das zweite ist – das haben auch Historiker erzählt – es gibt immer Wellen. Im Moment haben wir den Eindruck, wir leben in Zeiten, die wir schon in der Gegenwart als historisch begreifen. Wir reden über Weimarer Verhältnisse, wir sehen, dass Grenzen neu gezogen werden und wir sehen Autokraten aufsteigen, das gab es schon mal. Natürlich guckt man sich dann um und schaut, wie ist es eigentlich Menschen ergangen, die in ähnlichen Zeiträumen, unter ähnlichen Bedingungen gelebt haben. In Deutschland wurde angesichts der Nazizeit lange beschwiegen, wer wir sind und was uns ausmacht. Auch das wird seit einigen Jahrzehnten immer mehr, dass wir zurückschauen und forschen, was haben eigentlich unsere Vorfahren alles zur Weltgeschichte beigetragen. Das war mal Anpassung, Mitläufertum und eher seltener Auflehnung.

Das Gespräch führte Claudia Christophersen. Einen Ausschnitt davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie oben auf dieser Seite und in der ARD Audiothek hören.

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