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Früher war Sido als Krawallrapper berüchtigt. Beim ausverkauften Konzert in Kassel wurde der Mainstream-Star von 8000 Fans gefeiert. Selbst Mütter und Kinder sangen seinen „Arschficksong“ mit.
Kassel – Vielleicht wird der achtjährige Junge, mit dem Sido am Sonntag bei seinem Open-Air-Konzert an den Kasseler Messehallen sprach, am Ende seines Lebens einmal feststellen: Ab jenem lauen Sommerabend ging es bergab mit ihm. So ähnlich prophezeit es Sido voller Ironie, als er den 8000 Fans den „Arschficksong“ ankündigt, einen seiner größten Hits, der mitverantwortlich war, dass seine Alben früher nicht an Jugendliche verkauft werden durften.
Es sind noch andere Kinder im Publikum, sodass man sich unweigerlich fragt: Was ist bei deren Eltern eigentlich schiefgelaufen? Sido jedenfalls spricht mit den Jungen über die Größe der Eier, empfiehlt ihnen toxische Männlichkeit und sagt schließlich: „Wir versauen heute ihr Leben.“ Den Song über Analverkehr singen dann alle mit – auch eine 57 Jahre alte Mutter. So etwas schafft nicht jeder Künstler.
Sido wird in Kassel von 8000 Fans gefeiert
Zwei Stunden lang zelebriert der 44-Jährige bei seinem seit Langem ausverkauften Auftritt seine größten Hits – von „Mein Block“ aus den Anfängen beim Label Aggro Berlin, das den deutschen Gangsta-Rap erfand, bis zu späteren Pop-Nummern wie „Astronaut“. In anderen Genres würde man so etwas Werkschau nennen. Bei Sido ist es einfach eine große Party mit der „ganzen Gang“, wie er selbst sagt. Es ist das letzte Konzert seiner Jubiläums-Tour, in der er auf 25 Jahre zurückblickt. Einmal sagt er auf dem Messegelände: „So voll war es noch nie bei mir.“ Ein anderes Mal: „Ich hoffe, der Abend endet nie.“
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Man kennt ihn auch anders. Als der Rezensent vor 14 Jahren ein Interview mit ihm führte, war der Star von den Fragen irgendwann so genervt, dass er fragte, ob man schwul sei. Dann brach er das Gespräch mit der Empfehlung ab: „Fick dich.“ Noch vor einigen Jahren verbreitete Sido krude Verschwörungserzählungen und meinte, die großen Medien seien unterwandert.
Vom Bad Boy zum Rapper für die ganze Familie: Sido am Sonntagabend bei seinem umjubelten Open-Air-Auftritt an der Kasseler Messe. © Andreas Fischer
Als er vor drei Jahren das Album „Paul“ veröffentlichte, redete er dann wieder ganz offen mit Journalisten über seine Kokainsucht, den Entzug in einer Klinik und den Neuanfang. Sein Leben muss ziemlich versaut gewesen sein. Auch in Kassel inszeniert er seine Läuterung und gesteht zwischen zwei Songs: „Ich bin auf einem guten Weg.“ Dazu trägt er eine Art luxuriösen Pyjama-Jogger, der wohl nach Straße aussehen soll, aber vermutlich 2000 Euro gekostet hat.
Über die zwei großen Leinwände neben der Bühne flimmern Clips (etwa mit Schauspieler Frederick Lau), die seine große Karriere nachzeichnen: vom Rapper mit der Maske über den Mainstream-Künstler, der im Unterhaltungsfernsehen in Castingshows sitzt.
„Ich hab mich jetzt selbst lieb“, sagt Sido bei einer Ansage. Er scheint, als habe er seinen Frieden mit der Kunstfigur gemacht. Zugleich ist er wieder mehr der Paul Würdig, jener Junge, der im Märkischen Viertel in Berlin-Reinickendorf aufwuchs.
Sido lässt sich in Kassel einen Joint auf die Bühne bringen
Musikalisch braucht es nicht viel für einen gefeierten Abend. DJ Desue liefert die Beats. Dazu kommen Sänger und Rapper. Den Rest besorgt die Menge, die etwa im Chor die Zeile singt: „Ich will so gern erwachsen werden. Und nicht schon mit 18 sterben.“ Das ist insofern lustig, weil im Publikum wirklich sehr viele Menschen die zwei Stunden komplett durchrauchen.
Sido selbst lässt sich gegen Ende einen Joint auf die Bühne bringen und teilt ihn mit den Fans in den ersten Reihen. Was da wohl der achtjährige Junge denkt? Keine Macht den Drogen? Oder keine Macht den Doofen? Egal.
Sido wird weitermachen. Er will noch nicht Legende genannt werden, obwohl er das für seine Fans längst ist. Das klinge so nach Ende: „Ich bin noch lange nicht fertig.“ (Matthias Lohr)