„biarritz“
Schauspiel-Star und Bestseller-Autorin Andrea Sawatzki hat sich die Verletzungen ihrer Kindheit von der Seele geschrieben. In „Biarritz“ setzt die 62-Jährige ihrer dementen Mutter ein Denkmal und lässt die schwierige Beziehung zu ihr noch einmal Revue passieren.
Schauspiel-Star und Bestseller-Autorin: „Biarritz“ ist bereits das neunte Buch von Andrea SawatzkiGerald Matzka / dpa / picturedesk.com
Die Bevölkerung in Europa wird immer älter und hinfälliger. Aber nur die wenigsten können sich eine 24-Stunden-Betreuung daheim leisten. Keiner will es und doch müssen viele ihre letzten Jahre in Alters- und Pflegeheimen ertragen. Wie wenig Geld und Personal es für gute Betreuung gibt, unter welch harten Bedingungen da gearbeitet wird, auch davon handelt Andrea Sawatzkis neues Buch. Und schonungslos wirft die Autorin einen Blick auf die eigenen Versäumnisse. Angela Szivatz hat „Biarritz“ gelesen.
Weit in den Achzigern und seit einigen Jahren dement, lebt Emmi, die Mutter, im Altersheim. Ihre nun 60-jährige Tochter Hanna, die Ich-Erzählerin des Buches, in der Sawatzki sich selbst beschreibt, scheint von Emmi kaum noch wahrgenommen zu werden. Das einzige Wort, dass die Mutter seit über zwei Jahren spricht, ist ein langgezogenes „ja“. Vielleicht, so fragt sich Hanna, lehnt ihr Mama sie auch ab? Dabei war ihre Mama einmal die beste Mutter auf der ganzen Welt gewesen – eigentlich.
Andrea Sawatzki, geboren 1963, gehört zu den bekanntesten deutschen Film- und Fernsehschauspielerinnen, vielfach preisgekrönt. Sie wurde durch die Fernsehreihe „Tatort“ vor allem als Frankfurter Oberkommissarin Charlotte Sänger und als Gundula Bundschuh in der ZDF-Komödienreihe „Familie Bundschuh“ bekannt.
Seit 1998 lebt Andrea Sawatzki mit Christian Berkel zusammen, der selbst höchst erfolgreicher Schauspieler, Hörbuchsprecher und Autor ist. Mit zwei Söhnen leben sie in Berlin und haben 2011 geheiratet.
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Literatur-Kritikerin für Newsflix
Helmut Graf
Wie begann Sawatzkis Karriere als Autorin?
Nach ihrem Bestseller „Ein allzu braves Mädchen“ erschien die komödiantische Buch-Serie über die Familie Bundschuh. Alle fünf Bände wurden mit Sawatzki und Axel Milberg in den Hauptrollen auch verfilmt, sie selbst verfasste die Drehbücher. 2022 erschien ihr hochgelobter Roman „Brunnenstraße“, der autofiktional, also in einer Mischung aus autobiographisch und fiktional, ihre Kindheit und die Beziehung zu ihrem Vater wiedergibt.
Worum geht es in „Biarritz“?
In einer Art Prolog steigt man mitten in das Leben der kleinen Hanna etwa im frühen Kindergartenalter ein. Emmi und Hanna wohnen in einer Einliegerwohnung im Haus einer Bekannten, Tante Suse, die als Pflegemutter fungiert, wenn Emmi als Krankenschwester im Spital arbeitet. Tante Suse ist streng, es hagelt Ohrfeigen und Schläge für jedes Fehlverhalten. Aber sie gibt der kleinen Hanna auch ein Gefühl von Ordnung.
Gibt es keinen Vater in der Familie?
Doch, aber der ist mit einer anderen, schwer depressiven Frau verheiratet. Emmi, die sich lange „aufgehoben“ hat, wird vom viel älteren Günther schwanger. Sieben Jahre lang wartet sie darauf, dass er seine Frau für die neue Familie verlässt. Doch er hält sie hin, Emmi gibt die Hoffnung erst spät auf. Sie ist also auf Suse angewiesen. Selbst wirkt sie in dieser Zeit wie eine großartige, unkonventionelle und sehr zärtliche Mama, die für Hanna aber auch Chaos verkörpert. Kein Wunder, Emmis Kindheit war sehr traumatisch. Doch für Hanna ist sie der humorvolle und sehr geliebte Lebensmittelpunkt, bis der Vater schließlich irgendwann doch noch auftaucht.
Was passiert dann?
Nach dem Selbstmord seiner Frau holt Günther Emmi und Hanna zu sich ins Haus in der Brunnenstraße (sic!). Emmi ist überglücklich, die beiden heiraten. Doch was einst ihr Traum gewesen ist, stellt sich als das Gegenteil heraus. Günther hat inzwischen noch eine Andere geschwängert, hat mit seinen Drehbüchern und Texten kaum Erfolg, ist verschuldet. Emmi wird bis lange nach seinem Tod seine Schulden abbezahlen. Schon kurz nach der Hochzeit wird entdeckt, dass er an Demenz leidet, die rasch voranschreitet.
„Biarritz“ von Andreas Sawatzki, Roman, 160 Seiten, August 2025, Piper Verlag, € 23,50
Piper Verlag
Wie geht es Hanna mit all dem?
Der Vater wird zusehends aggressiver, schlägt Hanna manchmal, die Mutter wagt es kaum, Hanna ernsthaft zu verteidigen, spricht danach auch nicht mit der Tochter darüber. Hanna wird, weil die Mutter nun nachts als Krankenschwester arbeiten muss, als Elfjährige dazu verpflichtet, den Vater zu betreuen und zu bewachen. Erst Jahre später wird Hanna ihm körperlich überlegen sein. In der Zwischenzeit machen sich Gewalt -und Hassfantasien in ihr breit.
Wie lange läuft das so?
Bis der Vater stirbt. Da ist Hanna 15 Jahre alt, ihre Mutter 48. Ein Jahr später fährt Emmi mit der 16-jährigen Hanna nach Biarritz, das auch die Perle der baskischen Küste genannt wird. Seit über 100 Jahren ist die Stadt mit ihren atemberaubenden Landschaften und ihrer reichen Kultur beliebt bei berühmten Persönlichkeiten wie Napoleon III., Coco Chanel und vielen anderen. Hanna erlebt ihre Mama zum ersten Mal seit sieben Jahren gelöst und froh. Doch sie schafft es nur in seltenen Momenten, der Mutter zu verzeihen.
Woran liegt das?
Hanna hat sich im Stich gelassen gefühlt – zu Recht. Und Emmi hat sich so verändert in der Ehe, meist hat sie nur noch barsche Worte für ihr Kind. Die wiederum rächt sich mit sprachlichen „Garstigkeiten“. Der Ton zwischen Mutter und Tochter wird zusehends rauer, bis hin zu brutaler körperlicher Auseinandersetzung. Die Kluft wird immer größer, immer öfter wird geschwiegen, statt über alles zu reden.
Wie geht es weiter?
Hanna lebt ihr Leben, die Mutter ihres, allein in ihrer Wohnung. Viele Jahre später beginnt auch Emmi an Demenz leiden. Weil ihr sonst keine Lösung einfällt, bringt Hanna sie im Altersheim unter. Als Emmi, von Angstzuständen und Wahnvorstellungen geplagt, mitten in der Nacht bei Hanna auftaucht, stimmt diese zu, dass der Mutter schwerste Medikamente verabreicht werden. Danach kann Emmi bald nicht mehr gehen, nicht mehr lesen und schreiben, nicht mehr sprechen. Was Hanna ihrer Mama jetzt gerne sagen würde, das kann diese nicht mehr verstehen.
Andrea Sawatzki im Jahr 2008 mit ihren „Tatort“-Kollegen Jörg Schüttauf, Maria Furtwängler, Eva Mattes und Axel Prahl (v. l.). Zwischen 2001 und 2009 spielte sie insgesamt 18 Mal Oberkommissarin Charlotte Sänger
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Zum Glück taucht Marianne auf
Eines Tages trifft Hanna in Emmis Zimmer im Pflegeheim auf eine Frau, so alt wie Emmi, aber schick gekleidet und lebendig. Sie stellt sich als frühe und älteste Freundin ihrer Mutter vor. Leider haben sie den Kontakt erst vor ein paar Jahren und per Brief wieder aufgenommen. Es wird deutlich, dass Emmi mit Blicken und Lächeln auf ihre Freundin reagiert, die wohl lange verschüttete, positive Erinnerungen hervorholt.
Wie reagiert Hanna darauf?
Sie ist dankbar für alles, was sie durch Marianne über ihre Mama erfährt. Wie stolz und glücklich die Mutter über sie war. Wie sehr sie sie geliebt hat. Was für ein lustiger, frecher und freudiger Mensch Emmi früher gewesen ist. Marianne wird auch Hannas Vertraute. Die Besuche im Heim werden gelöster zu dritt, Marianne spricht mit Emmi, bezieht sie in alles ein, kümmert sich liebevoll.
Gibt es eine Annäherung zwischen Mutter und Tochter?
Hanna beginnt, ihrer Mama zu verzeihen, auch Dank Mariannes Erzählungen. Emmi kann darauf zwar nicht in Worten reagieren, scheint die Stimmungsveränderung aber zu spüren. In einem Akt der Erlösung befreit die Tochter ihre Mutter dann aus der Gewalt der schweren Medikamente und aus dem Pflegeheim. Gemeinsam mit Marianne fährt sie mit Mama ans Meer, an den Sehnsuchtsort Biarritz.
Andrea Sawatzki mit Ehemann Christian Berkel auf dem 42. Filmfest München 2025
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Was sagt Sawatzki selbst über ihr neues Buch?
„Ich habe drei Jahre für den Roman gebraucht. Im Grunde genommen wollte ich eine Liebeserklärung für meine Mutter schreiben. Ich wollte selbst verstehen, warum sie nie da war, aufgrund ihrer eigenen Biografie und Überforderung. Trotzdem ist es mir zwischendurch immer wieder passiert, dass ein Groll über mich kam. Ich dachte, man hätte das doch vielleicht irgendwie anders lösen können. Insofern ist dieses Buch so wichtig für mich. Ich würde mir jetzt wirklich sehr wünschen, wenn sie das Buch lesen könnte.“
Warum es sich lohnt, „Biarritz“ zu lesen
Die Offenheit auch über die hässlichsten Momente, die tiefsten Wunden eines Lebens zu erzählen, macht das Buch von Andrea Sawatzki absolut lesenswert. Es transportiert nachvollziehbar und einfühlsam die gesellschaftlichen Umstände und Probleme von alleinerziehenden Frauen Anfang der 1960er-Jahre: Die Scham, die finanzielle Bedrängnis, die Einsamkeit. Trotz der Härte ihrer Erlebnisse gelingt es Hanna – und damit wohl auch Sawatzki –, die schwierige Mutter-Tochter-Beziehung vielschichtig zu beleuchten und Raum für Annäherung und Versöhnung zu schaffen. Klare Empfehlung!
„Biarritz“ von Andreas Sawatzki, Roman, 160 Seiten, August 2025, Piper Verlag, € 23,50
Angela Szivatz ist Autorin, Moderatorin und Bloggerin („Oma aus dem Kirschbaum“). Für Newsflix schreibt sie über aktuelle Literatur. Sie lebt in Wien. Ihr erster Krimi „Tödliches Gspusi“ ist eben erschienen.
Akt. 20.08.2025 00:24 Uhr