Der Deckel an der Thermoskanne mit Yogitee wird noch einmal fest zugedreht. Das Pfeifen stört die Ruhe im Salon der Amerika-Gedenkbibliothek (AGB). Dann ergreift Sara Piazza das Wort. Die Leseleiterin, oder wie es beim Shared Reading heißt „the fascillitator“, also die Moderatorin, liest die ersten beiden Seiten aus Italo Calvinos Roman „Der Baron auf den Bäumen“ von 1957 vor. Und es passiert ein kleines Wunder.

„Es war der 15. Juni 1767, als Cosimo Piovasco di Rondò, mein Bruder, zum letzten Male in unserer Mitte saß“, lautet der erste Satz des Romans. Beim Durchlesen der selben Textstelle einige Tage später wirkt der Auftakt der Erzählung wie ein Rausschmeißer. Altertümlicher Stil, Familiengeschichte, vielleicht eine italienische Version der Buddenbrooks, nur noch ein Jahrhundert früher, warum sollte sich ein Leser das antun?

Das Vorlesen weckt Neugier

Bei den Zuhörern der Lesung Piazzas wecken dieselben Worte gespannte Erwartung. Was passiert als Nächstes? Sie werden mit Schilderungen eines üppigen mediterranen Essens im Schatten einer Steineiche belohnt, vorgetragen mit dem leichten italienischen Akzent Sara Piazzas. Schnell schlägt die Italien-Sehnsucht zu. Fast zirpen die Zikaden.

Doch zurück in den Salon der AGB. Die Berliner Shared-Reading-Gruppe versammelt sich jeden Sonntag um einen Tisch in einer ruhigen Ecke. Die Teilnehmer greifen zu Tee und Haferkeksen. Dann erhalten sie die Ausdrucke der ihnen unbekannten Textstelle. Sara Piazza lüftet das Geheimnis, aus welchem Roman in den nächsten 90 Minuten gelesen wird, und liest selbst die ersten beiden Seiten vor. Dann gibt es eine Pause, in der sie die Zuhörer nach Eindrücken und Empfindungen fragt. Danach lesen Teilnehmer weiter.

Am Ende wird ein Gedicht gelesen

Der Text wird in Häppchen vorgelesen und von den Teilnehmern interpretiert. Sara Piazza ist am Ende der Sitzung noch einmal an der Reihe. Sie liest das Gedicht „Ein Gleiches“ von Johann Wolfgang Goethe vor. Die Teilnehmer enträtseln in den letzten Minuten, welchen Bezug das von Piazza ausgewählte Gedicht zu dem Auszug aus Calvinos Roman haben könnte.

Ein Teilnehmer fasst nach dem Ende der Sitzung seine Begeisterung für das Goethe-Gedicht in einem Satz zusammen. „Es ist schon unglaublich, wie einen wenige Wörter emotional total flashen können“, sagt er. Auch die Textstelle aus Calvinos Roman hat ihn berührt. Er schilderte wie andere Teilnehmer Erlebnisse aus seiner Kindheit. Calvino beschrieb in seinem Roman „Der Baron auf den Bäumen“ aus den 50ern die Dressur der adligen Jugend im 18. Jahrhundert. Die bürgerliche Erziehung unterschied sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum davon.

Andere Meinungen bereichern

Die Kindheit als Wechselspiel aus Magie einerseits und dem Biegen und Brechen durch die Erwachsenen, das bewegt die Teilnehmer des Shared Reading an diesem Sonntagmorgen. Sie kommen sich beim Austausch über Worte und Metaphern nahe. Dabei sind sie sich vielleicht erst beim Reichen der Teekanne oder der Keksdose zum ersten Mal begegnet. Nicht immer sind sie sich bei ihren Interpretationen einig. Aber die Teilnehmer hören einander zu und denken nach. Die andere Meinung scheint zu bereichern. Wo passiert das heute noch?

Das laute Vorlesen in der Gruppe ist für Carsten Sommerfeldt von der Berliner Shared-Reading-Initiative der Schlüssel zum unmittelbaren Erleben von Literatur. „Das unterscheidet uns von Buchklubs oder Literaturzirkeln“, sagt Sommerfeldt. Er kennt sich im Literaturbetrieb der Hauptstadt gut aus. Sommerfeldt war erst Pressechef beim Berlin Verlag und dann einige Jahre beim Droemer-Verlag.

Es gibt Unterschiede zum Buchklub

Das „Überraschungsei“ eines für die Teilnehmer unbekannten Textes sei ein weiterer Unterschied zu üblichen Buchklubs. Deren Teilnehmer lesen ein vorab ein ausgesuchtes Buch, um es bei dem Treffen gemeinsam zu besprechen. Das unmittelbare Erleben beim Shared Reading ermögliche auch literarisch eher Unbeleckten die intuitive Auseinandersetzung, erklärt Sommerfeldt.

Buchklubs und Shared Reading: Was steckt hinter der neuen Lust am Lesen?

Buchklubs und Shared Reading: Was steckt hinter der neuen Lust am Lesen?Cedric Rehman

Das Shared Reading geht auf die britische Organisation The Reader zurück, die mit einem Literaturmagazin gleichen Namens verbunden ist. Die Literaturwissenschaftlerin Jane Davis veranstaltete Ende der 90er-Jahre an der Universität in Liverpool Kurse, bei denen die Kommunikation zwischen Lesern und der Dialog über das Gelesene statt literaturwissenschaftlicher Theorien im Mittelpunkt standen.

Die Erfahrungen in den Kursen wurden 2002 mit dem Projekt „Get into reading“ um Teilnehmer aus der Öffentlichkeit erweitert. Inzwischen gibt es 400 Shared-Reading-Gruppen in Großbritannien. Carsten Sommerfeldt gründete gemeinsam mit dem Literaturvermittler Thomas Böhm 2016 auf der Leipziger Buchmesse ein deutsches Shared-Reading-Projekt. Sommerfeldt bietet Seminare zur Ausbildung als Fascilitator an. Die Berliner Shared-Reading-Gruppe trifft sich seit 2016 regelmäßig in der AGB.

Eine Teilnehmerzahl von zehn sei eigentlich ideal bei einer Sitzung, sagt Sommerfeldt. Doch inzwischen kommen mehr als dreimal so viele Berliner zu den Veranstaltungen. „In den letzten Wochen und Monaten ist es deutlich mehr geworden“, berichtet er.

Buchbranche steigert Umsätze

Etwas scheint gerade im Gange zu sein im Umgang der Gesellschaft mit Büchern. Es scheint, als suchten immer mehr Menschen einen Schutzraum im Rauschen der Zeit. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels gehört zu den wenigen Branchenverbänden, die in der Wirtschaftsflaute Zuwächse verkünden können. Der Gesamtumsatz stieg auf 9,88 Milliarden Euro. Im Vergleich zum Vorjahr verzeichnete die Branche ein Plus von 1,8 Prozent. Sowohl der stationäre als auch der digitale Vertriebsweg konnte den Umsatz steigern.

Die Zahlen verkünden kein Feuerwerk, und es regnet mitnichten Manna auf die Häupter der deutschen Verlage. Peter Kraus vom Cleff, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, stellt klar, dass auch die Buchbranche in einem Klima der Konsumzurückhaltung in einem schwierigen Fahrwasser navigiere. Doch ausgerechnet eine Branche, die schon oft totgesagt wurde, weil angeblich niemand mehr lese, hält im Moment den Kopf über Wasser. Und trotz Geldsorgen kaufen Deutsche offenbar noch gerne Bücher und sparen lieber bei anderen Konsumgütern.

Sascha Lobo  ist ein deutscher Blogger, Buchautor, Journalist und Werbetexter. Thematisch befassen sich Lobos Texte meist mit dem Internet, vermischter Realität und digitalen Technologien und behandeln deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung.

Sascha Lobo ist ein deutscher Blogger, Buchautor, Journalist und Werbetexter. Thematisch befassen sich Lobos Texte meist mit dem Internet, vermischter Realität und digitalen Technologien und behandeln deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche Entwicklung.Mike Fröhling/Berliner Zeitung

Der Publizist Sascha Lobo verfasste 2016 eine Kolumne im Magazin Spiegel, die er „Anleitung zur Netzangst“ betitelte. Darin ging er auf den Internetausdruck tl;dr ein. Das Kürzel steht auf Deutsch übersetzt für „zu lang, um gelesen zu werden“.  Algorithmen und erst recht die KI reduzieren in Sekundenschnelle vielschichtige Inhalte auf das Wesentliche. Das zeichnet sie aus. Lobo befürchtete, dass wir die Fähigkeiten für das Entziffern vielschichtiger Inhalte verlernen – und vor allem die Geduld.

Aber offenbar schätzen Leser die zeitverschlingende Komplexität von Literatur. Peter Kraus vom Cleff verweist auf den Freizeitmonitor der Hamburger Stiftung für Zukunftsfragen. „Seit 15 Jahren stabil ist die Beobachtung, dass 35 Prozent aller Bundesbürger regelmäßig zum Buch greifen. Bücher und Lesen sind ungeachtet der wachsenden Medienkonkurrenz beliebte Freizeitbeschäftigungen“, erklärt er.

Schwindende Lesefähigkeit besorgt Börsenverein

Die von Sascha Lobo befürchtete Lesekrise betreffe eher Zeitungen und Zeitschriften. Kraus vom Cleff räumt ein, dass der Börsenverein dennoch nicht frei von Zukunftssorgen ist. Die Sorgen hinsichtlich einer abnehmenden Lesekompetenz jüngerer Menschen teilt er. Wobei es sich nur um einen Teil der Jugend handelt. „Jedes dritte Kind bis 8 Jahre bekommt nicht vorgelesen, jedes vierte Kind verlässt die Grundschule, ohne sinnentnehmend lesen zu können. Mit der heute schon messbaren Folge, dass jeder fünfte in Deutschland lebende Erwachsene die Lesefähigkeit eines zehnjährigen Kindes hat“, fasst Kraus vom Cleff die Malaise zusammen. Er spricht von einem „bildungspolitischen Disaster“.

Die Buchbranche wirbt mit Nachdruck auf die Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland, die nicht bildungsfern aufwachsen und über eine gute Lesekompetenz verfügen. Erfolg hat sie ausgerechnet in den sozialen Medien. Auf der Videoplattform TikTok macht die Community BookTok Furore. Besprochen wird Jugendliteratur, und die Empfehlungen von BookTok gehen bei den Händlern durch die Decke. Buch-Influencer beeinflussen zunehmend den Lesegeschmack in Deutschland.

Auch Stars betreiben Buchklubs

Internationale Starts wie die britisch-kosovarische Sängerin Dua Lipa oder die Hollywood-Schauspielerin Reese Witherspoon machten es mit ihren digitalen Buchklubs vor. Und auch in Deutschland boomen die Kanäle der Buch-Influencer. 24.000 Follower registriert der Kanal der Lektorin Mona Lang. Die 38-Jährige wurde 2024 Programmleiterin internationale Literatur beim Verlag Kiepenheuer & Witsch und Mitglied der Geschäftsleitung. Das erscheint als kluger Schachzug. Lang weiß, wie sich die digitalen Medien nutzen lassen, um Reichweite zu erzielen.

Sie beantwortet am Telefon Fragen zu einer paradoxen Erkenntnis. Anders als von Sascha Lobo befürchtet, hat die Digitalisierung nicht den Spaß am Lesen vernichtet. Stattdessen geht eine neue Leselust viral, die sich aber von den Bedürfnissen früherer Generationen unterscheidet. „Junge Menschen lesen heute anders als ich in meiner Jugend. Es geht ihnen um das verbindende Lesen“, sagt Lang. Für die Lektorin nahm der Prozess während der Pandemie Fahrt auf. Junge Menschen hockten alleine in ihren Zimmern und suchten ein Hobby. Was sie vermissten, war Verbundenheit und Gemeinschaftsgefühl. Der einzig verbliebene Weg, sie zu herstellen, war das Internet. Nur: Welcher Inhalt konnte das neue Wirgefühl schaffen? Die zum Stubenhocken Verdammten entschieden sich für das altbewährte Buch.

Mona Lang, Programmleitung internationale Literatur beim Verlag <a href="https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/kiepenheuer-and-witsch-trennt-sich-von-till-lindemann-li.355114">Kiepenheuer & Witsch</a>Mona Lang, Programmleitung internationale Literatur beim Verlag Kiepenheuer & WitschVerlag Kiepenheuer & Witsch

Die sozialen Medien erlaubten einen niedrigschwelligen Zugang zu Information rund ums Lesen und Tipps zur Bücherwahl, sagt Lang. Digitale Buchklubs ermöglichen ein Gruppengefühl schon beim Verteilen von Likes. Das nächste Buch, das zum Lesen empfohlen wird, wird zum Event. Und auch Mona Lang stellt fest, dass die User unterschiedliche Ansichten in den Kommentarleisten respektvoll austauschen. Leser der Online-Ausgaben von Zeitungen und Magazinen können da nur staunen.

Carsten Sommerfeldt von der Berliner Initiative Shared Reading ist sich sicher, dass immer mehr Menschen Angst vor einer Gesellschaft haben, in der kein Austausch über Worte und ihre Bedeutung mehr möglich ist. „Sie erkennen, was uns immer mehr abhanden kommt: das Aushalten unterschiedlicher Perspektiven“, sagt er. Die Sehnsucht nach dem Buch und das neue Bedürfnis nach gemeinsamen Leseformen erscheint ihm als instinktiver Griff zu einem Gegengift gegen immer mehr Dampf im Kessel des gesellschaftlichen Miteinanders.

Luxusmarken inszenieren Bücher

Die neue Lust am Lesen könnte aber auch die Spaltung verstärken. Sie verbindet die einen enger miteinander, erreicht aber die anderen mangels erworbener Kompetenzen im Lesen von Büchern gar nicht. Luxusmarken wie Dior und Chanel inszenieren Bücher als Lifestyle-Accessoires in ihren Marketingstrategien. Caroline von Monacos Tochter Charlotte Casiraghi ist Chanel-Botschafterin und bewirbt ihre eigenen exklusiven Buchklubs. Die Botschaft scheint klar: Wer liest, hat Stil, und wer Stil hat, hat auch das Geld, um nach Chanel zu riechen. Lesen wird wie ein Duft oder eine Kleidermarke ein Mittel zu Abgrenzung.

Mona Lang hält es für eine „berechtige Frage“, wie bildungsferne Schichten für das Lesen erschlossen werden können. Mehr Werbung von Chanel dürfte kaum weiterhelfen. „Ich sehe das im Moment nicht, aber ich hoffe, dass wir das schaffen werden“, sagt sie.

Carsten Sommerfeldt trägt das Shared Reading auch an Schulen, die nicht nur Kinder aus dem Bildungsbürgertum besuchen. „Mir wurde am Anfang gesagt, ich solle meine Erwartungen herunterschrauben. Die Schüler hätten nicht mehr die Aufmerksamkeit für einen zehnseitigen Text. Aber es stimmte nicht“, sagt er. Vielleicht ist die Lust am Lesen wie eine Schatztruhe. Manchmal muss einem jemand helfen, den Schlüssel zu finden.