Wie eine antisemitische Tat den Antisemitismus befeuert und die Opfer des Judenhasses zu den eigentlichen Tätern erklärt, welche die Gewalt verdient oder zumindest hervorgerufen hätten.

Ein bislang unbekannter Täter hat in der Nacht vom 13. auf den 14. August in Épinay-sur-Seine, einem Vorort von Paris, einen Olivenbaum gefällt, der als Andenken an den im Jahr 2006 entführten und ermordeten Juden Ilhan Halimi gepflanzt worden war.

Die Mitglieder einer zwanzigköpfigen muslimischen Gang, die sich »Barbaren« nannte, hatte den 23-jährigen Halimi entführt, nachdem eine Komplizin ihn unter Vortäuschung eines romantischen Dates in eine Falle gelockt hatte. 24 Tage lang folterten sie ihn mit Messern, Säure, brennenden Flüssigkeiten und glühenden Zigaretten. Dazu luden sie ihre Freunde ein. Am 13. Februar 2006 wurde Halimi nackt und mit Handschellen gefesselt in der Nähe einer Eisenbahnstrecke im Pariser Vorort Sainte-Geneviève-des-Bois gefunden. Neben zahlreiche Stichwunden war seine Haut zu achtzig Prozent mit Säure verätzt. Auf dem Weg zum Krankenhaus erlag Ilhan Halimi seinen schweren Verletzungen.

In den folgenden Tagen nahm die Polizei 21 Verdächtige fest, unter ihnen die Frau, die als Lockvogel gedient hatte. Der mutmaßliche Anführer der Gruppe, Youssouf Fofana, setzte sich in die Elfenbeinküste ab, wo er am 22. Februar festgenommen und am 4. März 2006 an Frankreich ausgeliefert wurde, wo er im Jahr 2010 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, während viele Mittäter milde Strafen bekamen, darunter der Lockvogel, der das Verbrechen erst ermöglicht hatte.

Parteien verurteilen die Tat

Von dem neben einer Gedenktafel gepflanzten Baum ist »nur noch der Stumpf und Sägemehl übrig«, berichtete die Tageszeitung Libération. Auswertungen der Überwachungskamera ergaben, dass ein Mann mit einem Rucksack den Park um ca. zwei Uhr am Morgen betrat.

Das Medienteam von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat schon Routine darin, nach antisemitischen Verbrechen Abscheu auszudrücken und die Standhaftigkeit der Republik zu betonen. Auf seinem X-Account heißt es: »Das Fällen des Baumes zu Ehren von Ilan Halimi ist ein Versuch, ihn ein zweites Mal zu töten. Das wird nicht geschehen: Die Nation wird diesen Sohn Frankreichs, der starb, weil er Jude war, nicht vergessen. Alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel werden eingesetzt, um diesen Akt des Hasses zu bestrafen. Angesichts des Antisemitismus ist die Republik stets kompromisslos.«

Innenminister François Bayrou schrieb: »Der Baum für Ilan Halimi, ein lebendiges Bollwerk gegen das Vergessen, wurde durch antisemitischen Hass gefällt. Kein Verbrechen kann die Erinnerung auslöschen. Der nie endende Kampf gegen das tödliche Gift des Hasses ist unsere oberste Pflicht.«

Eine Ermittlung sei eingeleitet worden, erklärte Julien Charles, Präfekt von Seine-Saint-Denis, der am Freitag gemeinsam mit dem Oberrabbiner Frankreichs, Haïm Korsia, in Épinay-sur-Seine war. Der parteiunabhängige Bürgermeister des Orts, Hervé Chevreau, hat Anzeige wegen Sachbeschädigung erstattet.

Korsia sagte gegenüber dem Fernsehsender BFMTV, am meisten aus der Fassung gebracht habe ihn, dass der Baum nicht einfach in einem Akt spontaner Gewalt abgebrochen wurde, sondern »kalt und mit Methode« mit einer Kettensäge gefällt. Dies sei ein Versuch, die Erinnerung an Ilan Halimi »aus unserem kollektiven Gedächtnis zu tilgen« und »bedeutet eine Ablehnung all dessen, was Juden ertragen müssen«. »Wir werden den Kampf gegen Antisemitismus nicht aufgeben, betonte der Rabbiner und bekräftigte, dass der Baum zu Beginn des kommenden Schuljahrs »neu gepflanzt« werde, um »das Andenken an Ilan Halimi zu bewahren«.

Yonathan Arfi, Präsident des Repräsentativen Rats der jüdischen Institutionen Frankreichs (CRIF), sieht in der Tat eine »gewaltsame Bekräftigung« des Antisemitismus in Frankreich: »Diese Bekräftigung vor der Gesellschaft ist äußerst schmerzhaft. Es gibt nichts Feigeres, und die Mörder seines Andenkens sind nicht besser als diejenigen, die ihm vor zwanzig Jahren das Leben nahmen.«

Mediale Relativierung

Während Politiker aller Parteien von ganz rechts bis ganz links die Tat einhellig als antisemitisch verurteilten, wird sie von Nutzern in den sozialen Medien relativiert, etwa auf der Facebookseite des 2015 gegründeten Politikblogs Les Répliques, der nach eigener Darstellung »humanistisch, progressiv, feministisch, umweltbewusst, antikolonialistisch und antirassistisch« eingestellt ist.

  • »Ist das Fällen eines Baums antisemitisch?«, fragen mehrere Kommentatoren. Nutzer »Doha Oum Yahia« hält die Tat für einen Trick, um das Thema des Antisemitismus in der Berichterstattung zu halten: »Ich persönlich glaube absolut nicht an die antisemitische Theorie. Ich denke, es ist nur ein weiterer Versuch, Hass zu schüren und den Leuten vorzugaukeln, es gäbe Antisemitismus in Frankreich. So viele Fälle haben wir in den letzten Jahren erlebt. Wir warten auf die Ergebnisse der Untersuchung.«
  • Auch »Nordine Tarkezi« glaubt an eine False-Flag-Operation: »Antisemitisch, sagen Sie? Wir sollten nicht den Karren vor das Pferd spannen. Die bisherigen Ereignisse haben uns etwas anderes gezeigt als antisemitische Taten. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie spricht nicht aus, was sie meint, damit sich Antisemiten besonders klug vorkommen können, wenn sie in der Lage sind, die Leerstelle auszufüllen.
  • »Freédéric Boullet« glaubt, die Anteilnahme an dem Schicksal von Ilan Halimi sei übertrieben, verglichen mit jener für die Opfer der jüngsten Hitzewelle: »Es gibt ich weiß nicht wie viele Morde/Frauenmorde pro Woche und wichtigere Themen (Massenmorde in Gaza und im Westjordanland zum Beispiel), aber Macron hat die Zeit, einen Strauch zu unterstützen, der gelitten hat. Ich glaube nicht, dass Macron ein einziges Wort für den Kerl hatte, der vor einem Monat in der Hitzewelle gestorben ist.«
    Gleichzeitig ordnete er die Tat in marxistischer Manier in die Klassenauseinandersetzung ein: »Ein jüdischer Kerl, der leider (unter widerlichen mafiösen und rassistischen Umständen, wie wir wissen) vor zwanzig Jahren gestorben ist, hat für die sozialen Rassisten des Jahres 2025 eine größere Bedeutung als der symbolische (kapitalistische und symptomatische) Tod eines unglücklichen Mannes aus der Arbeiterklasse letzten Monat.« Eine bemerkenswerte Form des Neids: Selbst diejenigen Juden, die entführt und zu Tode gefoltert werden, genießen in den Augen dieses Kommentators noch Privilegien.
  • »Theala Menthe« schickte eine vergiftete Kondolenz, die Israel die Schuld gibt: »Mein Beileid gilt der Familie dieser Person. Die Trauer wird respektiert, aber anscheinend reagieren nicht alle auf die gleiche Weise, denn wie viele Bäume wurden in Gaza zerstört, ohne dass die barbarischen Taten angeprangert und die Ermordung von Zivilisten verurteilt wurden?«
  • »Amar Ouriachi« gibt den Juden auch die Schuld am Antisemitismus: »Die von Israel im Gazastreifen verübten Gräueltaten könnten den Antisemitismus weltweit nur wieder aufflammen lassen!«
  • »Franck Francksxmada« tadelte die Tat als taktisch unklug: »Antisemitismus ist ein Verbrechen, Antizionismus eine Pflicht. Diese Tat ist kontraproduktiv.«
  • »Ruan Ruani« spekulierte, dass die Tat von »Zionisten« begangen worden sein könnte: »Natürlich ist diese abscheuliche Tat, wer auch immer der Urheber ist, ob es sich um eine Person handelt, die die Geschehnisse in Gaza und die Unmenschlichkeit der israelischen Regierung und der israelischen Armee anprangern wollte, oder ob es sich einfach um eine Person mit schlechten Absichten handelt, wie wir häufig gesehen haben, nämlich dass es viele Taten von Zionisten oder Mitgliedern der extremen Rechten gab, um meinem Landsmann muslimischen Glaubens die Schuld zuzuschieben. … Lassen wir nicht zu, dass diejenigen, die dies tun wollen, uns vom ultimativen Ziel ablenken, in Frieden zusammenzuleben und das Ende des Völkermords in Gaza und aller Konflikte auf dem Planeten zu erreichen.«

Zahlreiche Nutzer fühlen sich anlässlich der Tat des gefällten Gedenkbaums für den ermordeten Ilan Halimi getrieben, an die »Tausenden palästinensischen Olivenbäume« zu erinnern, »die Zionisten« gefällt hätten. »Danièle Walgraeve« etwa sieht sich auf der Seite des »Humanismus«, wenn er die Tat relativiert: »Diese Tat ist abscheulich. Doch verglichen mit den Tausenden von Olivenbäumen, die in Palästina zerstört, mit Benzin übergossen und verbrannt wurden und die Bevölkerung ihrer mageren Einkommensquellen beraubten, bleibt diese Tat symbolisch. Dieser Beitrag ist in keiner Weise antisemitisch! Antizionistisch vielleicht. Aber sicherlich humanistisch.« »Bastien Doub« wiederum schreibt: »Ein abgeschnittener Baum gegenüber dem zerstörten Gaza.«

Täter-Opfer-Umkehr

Die Gesinnung dieser Äußerung spiegelt wahrscheinlich die des Täters wider: Wut und Missgunst, weil Juden (punktuell) als der Opfer von Gewalt gedacht wird, statt sie summarisch als Täter aller ihnen seit zweitausend Jahren unterstellten Verbrechen anzuklagen, zu verurteilen und zu bestrafen, darunter für das »zerstörte Gaza«.

Die jüngste Tat reiht sich ein in die Serie von Angriffen auf das Holocaustgedenken und das Gedenken an Juden überhaupt. In Europa werden Mahnmale und Gedenkstätten geschändet, in New York wurde gegen eine Ausstellung für die Opfer des Nova-Musikfestival-Massakers demonstriert. All das ist der Wunsch nach Auslöschung. Juden sollen nicht nur vom Erdboden verschwinden, ihrer soll auch nicht mehr gedacht werden.

Ungefähr zur selben Zeit, als der Gedenkbaum für Ilan Halimi gefällt wurde, wurde eine Gruppe jüdischer Schüler aus Frankreich der Flug von Spanien nach Paris verwehrt, nachdem sie ein hebräisches Lied gesungen hatte. Die Leiterin der Gruppe wurde mit Handschellen am Boden fixiert. Die Frankfurter Linksjugend solid bedauerte in den sozialen Medien, dass die jüdischen Kinder nicht rausgeworfen wurden, »während das Flugzeug in der Luft war«.

Angriff auf das Gedenken

Das Gedenken an Ilan Halimi wurde schon mehrfach Ziel von Antisemiten: Só wurde im Jahr 2015 eine im Park des Pariser Vororts Bagneux gelegene Gedenkplakette beschädigt. 2017 wurde dieselbe erneut mit antisemitischen Graffiti (u. a. »Hitler« und Hakenkreuze) beschmiert, entfernt und an anderer Stelle weggeworfen. Dazu war »Befreit Fofana« in Anspielung auf Youssouf Fofana, den Anführer der Gruppe, die Halimi ermordete, zu lesen.

Und 2019 wurden in der südlichen Pariser Vorstadt Sainte‑Geneviève‑des‑Bois ebenfalls zwei Bäume, die zu Halimis Gedenken gepflanzt worden waren, wenige Tage vor dem Jahrestag seines Todes abgesägt. Die Tageszeitung Le Parisien erinnerte damals in diesem Zusammenhang daran, dass der Name Ilan im Hebräischen »Baum« bedeutet.