DruckenTeilen
Netflix produzierte heimlich den besseren Western, während alle den nächsten „Yellowstone“-Abklatsch erwarteten – mit Eric Bana im Yosemite.
Als Netflix „Untamed“ ankündigte, rollten viele mit den Augen. Wieder so ein Versuch, vom „Yellowstone“-Hype zu profitieren? Ein weiterer Western mit Hut und Pferd, der die Erfolgsformel von Taylor Sheridans Familiensaga kopieren will? Die Skepsis war berechtigt – schließlich ist die Streaming-Landschaft übersät mit gescheiterten Versuchen, das nächste große Ding zu werden.
Agent Turner und Rangerin Vasquez (Lily Santiago) hoch zu Ross vor grandioser Kulisse in der Serie „Untamed“. © Netflix
Doch bereits nach den ersten Minuten wird klar: „Untamed“ spielt in einer anderen Liga. Statt auf billige Effekthascherei zu setzen, wagt die Serie mit Eric Bana als Sonderermittler Kyle etwas, was „Yellowstone“ in fünf Staffeln nicht geschafft hat – echte emotionale Tiefe. Während Kevin Costners John Dutton seine Probleme meist mit der Schrotflinte löst, kämpft Kyle mit Dämonen, die sich nicht wegschießen lassen. Diesen Unterschied hat Rebecca Schriesheim von collider.com in ihrer Kritik zur 1. Staffel von „Untamed“ auf eindrucksvolle Weise dargelegt.
Spoilerwarnung: Im Folgenden geht es um explizite Inhalte aus „Untamed“ und dem Finale der 1. Staffel.
Wenn Trauer zur tödlichen Waffe wird
Das Finale von „Untamed“ macht deutlich, worum es wirklich geht: nicht um Landstreitigkeiten oder Familienfehden, sondern um den Umgang mit Verlust. Kyle, der seit sechs Jahren den Tod seines Sohnes Caleb nicht verwinden kann, ermittelt im Yosemite-Nationalpark in Vermisstenfällen. Was zunächst wie ein klassischer Krimi daherkommt, entpuppt sich als Studie über Trauer in all ihren Facetten.
Die Serie nutzt die raue Wildnis als Spiegel für die inneren Kämpfe ihrer Figuren. Reißende Flüsse und steile Klippen werden zu Metaphern für emotionale Abgründe. Während „Yellowstone“ seine Konflikte meist mit Gewalt löst, setzt „Untamed“ auf psychologische Tiefe – und das zahlt sich in den entscheidenden letzten zehn Minuten aus.
Erfolgsserie „Yellowstone“: So viel echter Cowboy steckt in den DarstellernFotostrecke ansehen
Die wahre Stärke der Serie zeigt sich in der Schlüsselszene zwischen Eric Bana und Sam Neill. Neill, der die ganze Staffel über als väterliche Figur für Kyle fungierte, entpuppt sich als der wahre Mörder von Lucy Cook. Diese Wendung trifft wie ein Schlag in die Magengrube – nicht wegen billiger Schockeffekte, sondern wegen der subtilen Vorbereitung.
Neill spielt Paul Scouter als Mann, der vor seiner eigenen Schuld flieht. In der finalen Konfrontation am Wasserfall wird deutlich: Er hat seine Tochter getötet und versucht seitdem, diese Wahrheit zu verdrängen. Die Szene zwischen den beiden Veteranen ist ein Schauspiel-Meisterwerk, bei dem Worte schärfer schneiden als jede Waffe aus dem „Yellowstone“-Arsenal.
Der bessere Western kommt ohne Cowboyhut aus
Das wahre Genie von „Untamed“ liegt im Verzicht auf das erwartete Finale. Statt einer großen Schießerei gibt es eine Selbsterkenntnis. Paul richtet die Waffe gegen sich selbst – nicht aus Feigheit, sondern als letzter Akt der Akzeptanz. Er springt in den Tod, wie seine Tochter Lucy, und schließt damit einen Kreis aus Schuld und Sühne.
Kyle hingegen findet seinen Frieden nicht durch Rache, sondern durch das Loslassen. Die symbolische Geste, Calebs Spielzeugautos zurückzulassen, während er den Park verlässt, ist kraftvoller als jeder Showdown. Hier zeigt sich der fundamentale Unterschied zu „Yellowstone“: Heilung kommt nicht durch Gewalt, sondern durch Akzeptanz.
Eric Bana als Sonderermittler Kyle in „Untamed“ – ein Mann, der seine Dämonen nicht wegschießen kann, sondern ihnen ins Auge blicken muss. © Netflix
„Untamed“ beweist, dass das Western-Genre mehr kann als Klischees bedienen. Während „Yellowstone“ oft in Seifenoper-Dramatik abdriftet, bleibt die Netflix-Serie bei ihrem emotionalen Kern. Die angekündigte zweite Staffel verspricht weitere Erkundungen menschlicher Abgründe – fernab von Ranch-Romantik und Familienfehden.
Am Ende fährt Kyle in Richtung Unbekannt, aber zum ersten Mal seit Jahren bewegt er sich vorwärts. Das ist mehr Entwicklung, als John Dutton in fünf Staffeln durchgemacht hat. Manchmal braucht es eben keine Schießerei, um einen Western zu gewinnen.