Von Simon Welebil
Vielen Autor:innen dient die eigene Geschichte der Familie als Material, in dem sie für ihre Arbeit schürfen. Marko Dinić, der in Wien geboren und in Belgrad aufgewachsen ist, hat bereits in seinem ersten Roman „Die guten Tage“ die Biographie seiner Großmutter einfließen lassen, ist jetzt in seiner Familiengeschichte auf eine Goldader gestoßen, oder er möchte es uns zumindest glauben lassen. Im letzten Viertel seines aktuellen Romans „Das Buch der Gesichter“ präsentiert er uns einen Brief, in dem der Verfasser, ein Verwandter, beschreibt, wie er bei Nachforschungen ein Familiengeheimnis aufgedeckt hat, das so furchtbar ist, dass er es nicht einmal seiner eigenen Frau anvertrauen will: Der verschollene Zwillingsbruder des Großvaters sei während des Zweiten Weltkriegs in einem Lager zum Massenmörder geworden.
Apollonia Theresa Bitzan
Marko Dinić spricht im FM4 Interviewpodcast ausführlich über seinen aktuellen Roman „Buch der Gesichter“.
„Als ich diesen Brief gefunden habe, beziehungsweise ich würde gar nicht sagen, dass ich ihn gefunden habe, sondern als er zu mir gekommen ist, war es tatsächlich so, als hätte ich einen Schatz gefunden, weil er hat im Grunde dieses Buch zu dem geformt, wie es sich uns heute darstellt.“, sagt Marko Dinić im Interview, fügt aber gleich an: „Was es mit diesem Brief auf sich hat und ob es diesen Brief überhaupt gibt, das überlasse ich der Interpretation der Leserinnen und Leser.“
„Weg der äußersten Fiktion“
In „Buch der Gesichter“ teilt Marko Dinić seinem Verwandten, dem Kriegsverbrecher, jedenfalls nur eine Nebenrolle zu. Er will als Nicht-Jude die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Serbien erzählen und wählt dafür den „Weg der äußersten Fiktion“, wie er ihn nennt, „eine erfundene Geschichte, die aus vielen wahren Kernen besteht.“ Als Protagonist wählt er sich Isak Ras, der als jüdisches Kind noch in der Habsburgermonarchie aufwächst, im Ersten Weltkrieg zunächst den Vater und danach die Mutter verliert und anschließend unter einem serbischen Namen von einem anarchistischen Paar aufgezogen wird. Die Namensänderung hilft ihm auch den Holocaust im von den Nazis besetzten Serbien zu überleben.
Die Geschichte von Isak Ras wird von Marko Dinić allerdings nicht chronologisch erzählt. Acht Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven drehen sich um die Geschehnisse an einem Tag im Jahr 1942, wobei der Tag selbst nur ein Anker ist, um die unterschiedlichen Erzählungen zusammenzuhalten. „Meine Protagonistinnen und Protagonisten machen eigentlich immer nicht viel. (…) Sie gehen im Grunde immer von A nach B, immer in einer Suchbewegung.“, meint Dinić. Er will „große Geschichte schön im Hintergrund zittern lassen“ und zeigen, wie „die große Geschichte auf einfache Menschen einwirkt.“
Wer bewahrt diese Geschichten für die Nachwelt?
Zsolnay Verlag
„Buch der Gesichter“ von Marko Dinić ist im Zsolnay Verlag erschienen.
Seine Figuren hat er dabei so ausgewählt, dass er möglichst viel von der jüdischen Geschichte und Kultur Serbiens erzählen kann, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Und als jemand, der in Salzburg jüdische Kulturgeschichte studiert hat, hat Dinić auch die Expertise dazu, jüdische Rituale und Alltagsleben detailliert zu beschreiben. So erfahren wir etwa von einer frühen zionistischen Bewegung in Serbien, von vor Belgrad gestrandeten jüdischen Flüchtlingsschiffen aus Österreich, die zur Todesfalle werden, von der Neuen Synagoge in Belgrad, die unter der Besatzung oder als Laufhaus für deutsche Offiziere genutzt wurde oder die Gräuel im Konzentrationslager Jasenovac, die Dinić von einem Jungen in biblischem Duktus schildern lässt: „Wisset nur, dass die Erde schwarz vor Blut gewesen … dass irgendwann der Augenblick kam, da sich das Schwarz meiner Roma mit jenem der Juden, Kroaten und Serben vermischte. So waren wir unter dem Messer des Feindes alle gleich wie zu Lebzeiten nicht!“
Es ist keine leichte Kost, die Dinić seinen Leserinnen und Lesern vorsetzt, inhaltlich und sprachlich, ein dicht verwobener Zitate-Teppich, den man wohl erst bei mehrmaligem Lesen halbwegs entwirren kann. Dinić schafft es allerdings, mit einem Spiel aus Fakt und Fiktion und mit der Andeutung von Geheimnissen, die Spannung in „Das Buch der Gesichter“ hochzuhalten. Wer sich auf den fast 500 Seiten langen Roman einlässt, wird mit neuen Perspektiven belohnt werden, hat danach aber vielleicht mehr Fragen, als vorher.