Sieben Kartons sind alles, was von der Mutter übrig ist. Ironischerweise besteht dieser Nachlass jedoch nur aus Müll: Mahnbriefe, alte Steuererklärungen, unbezahlte Rechnungen. Der Gerichtsvollzieher hatte bei der Zwangsräumung versehentlich die falschen Kisten gesichert, die Fotos, Liebesbriefe oder gar Tagebücher waren in der Müllverbrennungsanlage gelandet.
Leon Engler: „Botanik des Wahnsinns“, Dumont Verlag, 207 Seiten, 24 Euro. Foto: Dumont
So sitzt unser Ich-Erzähler, der mit dem Autor Leon Engler in wesentlichen Teilen übereinzustimmen scheint, vor den belanglosen Hinterlassenschaften des unglücklichen Lebens seiner Mutter, einer kürzlich verstorbenen Alkoholikerin. Auch sonst ist seine Familie voller psychischer Auffälligkeiten: der Vater depressiv, die bipolare Großmutter unternimmt ein Dutzend Suizidversuche, der Großvater: Dauerpatient in Steinhof, der berühmten Wiener Heilanstalt.
Diesen Ich-Erzähler treibt die Angst um, dass die kranke Saat dieses familiären Keims auch in ihm aufgeht – die Zeichen dafür stehen nicht schlecht. Zuerst flieht er deshalb weit weg, nach New York, verbringt anschließend als Student der Theaterwissenschaften viel Zeit in Wiener Caféhäusern und wagt sich schließlich ins Epizentrum des Wahnsinns vor, in die Psychiatrie; allerdings als Psychologe und nicht als Patient.
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Aus der sicheren Distanz des Arztes schaut er sich die Symptome mikroskopisch genau an: Depression, Bipolarität, Schizophrenie, Paranoia. Er erweitert sein Wissen enzyklopädisch, was ihm hilft, seine eigene Familie besser zu verstehen.
Der Buchmarkt ist derzeit voll von Büchern aus der Psychiatrie. Fast ist man ein bisschen müde von der literarischen Symptomarbeit. Leon Engler allerdings ist ein fantasievoller Roman gelungen, der mit viel (Selbst-)Ironie und zudem sehr belesen daherkommt.
Nicht nur ein Glossar am Ende des Buches belegt das, sondern auch die Exkurse in die Welt der Psychiatrie („Grand Hotel zur lockeren Schraube“, wie es ein Patient nennt) und der Schriftstellerei und Wissenschaft: Ingeborg Bachmann, Siri Hustvedt, Sylvia Plath, Thomas Bernhard, C. G. Jung, Carl von Linné.
Gerade der schwedische Naturforscher, der im 18. Jahrhundert die Tier- und Pflanzenwelt in eine logische Ordnung brachte, scheint die Matrix für das Debüt zu sein. Engler versucht, die Krankheiten zu sortieren, ihr Keimen, Wachsen und Reifen, ihre Genetik einzuordnen, um die Symptome zu „eliminieren“. Auch wenn er feststellen muss, dass die Vorstellung eines „symptomfreien, glücklichen Lebens Illusion“ ist, stimmt einen seine „Botanik des Wahnsinns“ doch versöhnlich.
Redakteurin Andrea Zuleger und Chefredakteur Thomas Thelen sprechen im AZ-Podcast „Auslese“ über den Roman „Der Schlächter“ von Joyce Carol Oates. © Zuleger, Thelen, Engels; Grafik: Claßen