Berlin taz | Ewig lange Wartelisten, Anmeldung des Kindes am besten schon ein Jahr vor der Geburt: Die beschwerliche Suche nach einem Kitaplatz ist längst Teil der Berlin-Folklore. Doch das Klischee der verzweifelten Eltern, die das Land verklagen, gehört mittlerweile der Vergangenheit an. Denn seit einigen Jahren gehen die Geburtenraten zurück und es gibt erstmals deutlich mehr Kitaplätze als Kinder. Was für Eltern erfreulich ist, bereitet den Trägern Sorge. Dabei bietet der Kinderschwund die Chance, die Qualität der Betreuung nachhaltig zu verbessern.

Auf den ersten Blick scheint die Entwicklung paradox. Berlins Bevölkerung wächst, aber die Zahl der Kinder nimmt ab. Woran liegt das? Zum einen ist da die Geburtenrate, die stetig sinkt. Im bundesweiten Vergleich ist sie in Berlin mit 1,2 Kindern pro Frau sogar am niedrigsten. Dass die Stadt trotzdem wächst, liegt am starken Zuzug. Besonders junge Menschen zieht es in die Hauptstadt. Doch wenn sie älter werden, verlassen sie Berlin wieder. „Viele junge Familien ziehen in den Speckgürtel von Großstädten“, sagt Katharina Spieß, Direktorin des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung.

Entscheidend für die Bevölkerungsbewegung ist auch die Verfügbarkeit von günstigem Wohnraum. Und den gab es in der Vergangenheit vor allem im Speckgürtel und den Ostbezirken außerhalb des S-Bahn-Rings. Genau diese Gebiete weisen heute auch den höchsten Anteil an unter Sechsjährigen auf, während es in den Innenstadtbezirken immer weniger Kleinkinder gibt. Die vielzitierten Prenzlauer-Berg-Eltern bleiben also im Kiez, ihre Kinder werden älter – aber eine neue Kohorte kommt nicht nach, da es so gut wie keine freien Wohnungen gibt.

Trotz teils erheblicher Unterschiede werde die Kinderzahl in allen Bezirken sinken, prognostiziert die Bevölkerungsforscherin Spieß: „Die Entwicklung ist wenig überraschend“. Geburten, Sterbefälle, Zu- und Wegzüge, all diese Faktoren ließen sich in einem gewissen Rahmen gut vorhersagen, erklärt sie. Internationale Migrationsbewegungen, wie zuletzt infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine, sind es dagegen nicht, sie sorgen für statistische Ausreißer.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden,
ob Sie dieses Element auch sehen wollen:

Gut für Eltern

Die Auswirkungen des demografischen Wandels machen sich zuerst am Kitasystem bemerkbar. Nach Jahren des Mangels gibt es auf einmal einen Überhang an Kitaplätzen. Viele Einrichtungen haben Schwierigkeiten, genügend Anmeldungen für ihre Gruppen zu finden. Die Auslastungsquote der Berliner Kitas lag im vergangenen Jahr bei nur 88,5 Prozent – ein historisches Tief. Berlinweit gibt es derzeit 19.000 freie Kitaplätze.

Für Eltern ist die Entwicklung erfreulich. Lange Wartelisten sind, bis auf Ausnahmen in Bezirken wie Lichtenberg oder Spandau, weitestgehend passé. Zum ersten Mal seit Jahren können Eltern den Kitaplatz für ihr Kind auch nach Lage und pädagogischem Konzept wählen, und nicht nur nach Verfügbarkeit.

Doch die für die Kitaträger ist die Situation teilweise dramatisch. Kitas werden in Berlin pro Kind finanziert, aber die Kosten für Miete, Nebenkosten und Personal bleiben gleich – und große Rücklagen hat kaum ein Träger.

„Innerstädtisch findet gerade eine massive Bereinigung statt“, sagt Lars Békési, Geschäftsführer des Verbands der kleinen und mittelgroßen Kitaträger in Berlin, „Viele Einrichtungen müssen schließen, einige Träger gehen sogar insolvent“. Jahrelang seien pädagogische Fachkräfte händeringend gesucht worden. Nun müssten Träger Personal entlassen, auch Auszubildende könne teilweise keine Übernahmegarantie mehr gewährleistet werden, berichtet Békési.

Fachkräfte weiter knapp

Doch spätestens mit der Renteneintrittswelle der Baby-Boomer-Generation zum Ende des Jahrzehnts wird sich der Fachkräftemangel wieder drastisch verschärfen. Daher ist es wichtig, trotz zurückgehender Kinderzahlen Er­zie­he­r:in­nen im Kitasystem zu halten. „Man darf weder Räume noch Personal abbauen“, sagt Franziska Brychcy, bildungspolitische Sprecherin der Linken-Fraktion im Abgeordnetenhaus.

Diesen Fehler habe die Stadt in den 1990er Jahren gemacht. Als die Bevölkerungszahl dann wieder wuchs, mussten Kitaplätze erst mühsam wieder aufgebaut werden.

Eine naheliegende Lösung, ist, den Betreuungsschlüssel zu verbessern. Mit der Novelle des Kita-Fördergesetzes sollen ab nächstem Jahr im Bereich der unter Dreijährigen eine Erzieherin vier statt fünf Kinder betreuen. Mit dem Schritt verbleiben laut Angaben des Senats 180 von 270 Millionen Euro, die aufgrund der zurückgehenden Kinderzahlen freiwerden, im Kitasystem.

Geht es nach den freien Trägern und der Linken, sollen auch die restlichen 90 Millionen zurückfließen. Sie sollen für eine weitere Verbesserung der Betreuungsqualität verwendet werden, gerade auch bei den über Dreijährigen. „Die Zahl der Kinder mit Problemen geht durch die Decke“, sagt Träger-Vertreter Lars Békési. Der Anteil an Kindern mit Integrationsstatus hat in den letzten Jahren stark zugenommen.

Kitas vor dem Kollaps

Auch die Gewerkschaften fordern seit Jahren eine deutliche Verbesserung des Betreuungsschlüssels, um die katastrophalen Arbeitsbedingungen in dem Bereich zu verbessern. Bundesweit weisen Berliner Er­zie­he­r:in­nen laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aus dem Jahr 2024 mit 36 Krankheitstagen die höchsten Ausfallraten auf.

Der Durchschnitt in anderen Branchen beträgt rund 20 Tage. Die hohen Krankenstände sorgen dafür, dass die selbst auf dem Papier ungenügenden Betreuungsschlüssel ständig unterschritten werden, kritisiert die Gewerkschaft Verdi.

Eine fachgerechte Kindbetreuung sei unter diesen Umständen kaum noch möglich. Eine im Juli veröffentlichte Umfrage unter Kita-Beschäftigten ergab, dass 98 Prozent aller Befragten das Gefühl haben, nicht den eigenen Ansprüchen bei der Betreuung gerecht zu werden. Verdi spricht daher von einem „Kita-Kollaps“.

Eine Frage des Geldes

Die in der Streikbewegung im vergangenen Jahr vorgetragene Forderung der Gewerkschaft watschte der Senat auch mit dem Argument ab, dass gar nicht genügend Fachkräfte vorhanden seien, um den Betreuungsschlüssel merklich zu verbessern. „Inzwischen haben wir eine ganz an der Situation. Die Fachkräfte sind da“, widersprach Verdi-Expertin Ele Alsago bei der Vorstellung der Umfrage im Juli.

Doch am Ende bleibt es eine Frage des Geldes, ob Berlin die Chance nutzt, die Betreuungsqualität im Kitasystem nachhaltig zu verbessern – wie immer in dieser Stadt. Als „bemerkenswerte Maßnahme“ bezeichnete etwa eine Sprecherin der Bildungsverwaltung die erkämpfte Verbesserung des Betreuungsschlüssels im U3-Bereich: „gerade unter den Bedingungen der notwendigen und bereits bekannten berlinweiten Einsparmaßnahmen.“