Besichtigungstermin in einem Kiefernwald bei Isjum, im Osten der Ukraine. Ringsumher sind leere Gräber zu sehen. Hier verscharrten russische Soldaten im Frühjahr 2022 die Leichen hunderter Zivilisten, die sie zuvor getötet hatten. Die Opfer wurden inzwischen exhumiert, um sie zu untersuchen – manche von ihnen sind grausam gefoltert worden. Es ist neben Butscha eines der bekanntesten und schwersten russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine.
Petra, eine aus der Gruppe, sagt, der Sand im Wald fühle sich an wie an einem Strand, das sei ein bizarres Gefühl an diesem Ort. Und dass es angenehm nach Kiefernadeln dufte, der Wald sei sehr schön. Etwas später sagt sie, was man hier sehe, sei fake. Die Kamera folgt ihr, während sie umherläuft. Schließlich sagt sie: „Das hier ist exzellentes Material für die ukrainische Propaganda, um Hass gegen die Russen zu kultivieren. Wie aus einem Lehrbuch des Nationalismus.“
Die Szene stammt aus dem Film „Die große patriotische Reise“ des tschechischen Filmemachers Robin Kvapil. Er erzählt die Geschichte dreier Tschechen, die prorussische und antiukrainische Ansichten vertreten und auf Einladung des Regisseurs in die Ukraine fahren, um der Realität des Krieges zu begegnen. Dabei werden sie von Kvapil und seinem Team gefilmt; die Protagonisten filmen und kommentieren aber auch selbst, was sie sehen. Der Film zeigt die Aufnahmen dieser Reise unkommentiert.
Selbsternannte „Querdenker“
Die drei sind weder Hetzer noch aktive Propagandisten – sie vertreten gewissermaßen den Mainstream des Anti-Mainstreams. Sie zweifeln an den meisten Nachrichten über den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Sie glauben, dass es ein Krieg des Westens gegen Russland sei, und sie fühlen sich gestört von ukrainischen Flüchtlingen in ihrem Land.
Kiefernwald bei Isjum: Selbst die russischen Kriegsverbrechen lassen Ivo, Nikola und Petra nicht an ihren Gewissheiten zweifelnBild: Stanislav Krupar/Punk Film
Generell empfinden sie das System in Tschechien als undemokratisch. Sie sind gegen grüne Politik, gegen Genderthemen, gegen Flüchtlinge, gegen das Europa der EU. Einer von ihnen bezeichnet sich halb ernst, halb selbstironisch als „Desolaten“ – in Tschechien ein negativ konnotierter Begriff für Verschwörungstheoretiker, im Deutschen würde man „Schwurbler“ oder „Querdenker“ sagen. Werden die „Desolaten“ ihre Ansichten über Russland und die Ukraine im Laufe der Reise ändern?
Gute Wahlaussichten für prorussische Parteien
Die Premiere des Films wird in der Tschechischen Republik nicht zufällig am 21. August stattfinden – dem Jahrestag der sowjetischen Invasion 1968 in der Tschechoslowakei, der dem „Prager Frühling“ ein brutales Ende setzte. Aber schon vor der Veröffentlichung sorgt der Film für Schlagzeilen. In allen großen tschechischen Medien erschienen in den vergangenen Wochen Berichte, in den sozialen Netzwerken wird heftig diskutiert. Der 40-jährige Filmemacher Kvapil, der aus der mährischen Metropole Brünn (Brno) stammt, erhielt viel Zuspruch, aber auch Kritik und zahlreiche anonyme Drohungen gegen sich und seine Familie, wie er im Gespräch mit der DW sagt.
Schon vor der Premiere schlug die Dokumentation über die drei Anti-Mainstream-Mainstreamer große Wellen Bild: Stanislav Krupar/Punk Film
In den öffentlichen Diskussionen um seinen Film geht es darum, wie stark und wie gefährlich der russische Einfluss in der Tschechischen Republik ist, ob und wie gespalten das Land ist und ob die „Desolaten“ im Film zu Unrecht bloßgestellt werden. Das Werk erscheint in einem politisch kritischen Moment: Anfang Oktober wird in Tschechien ein neues Parlament gewählt. Favorit ist die rechtspopulistische Partei ANO des umstrittenen Ex-Premiers und Milliardärs Andrej Babis, der zwar kein offener Unterstützer des russischen Diktators Putin ist, aber gewissermaßen aus Pragmatismus heraus prorussische Positionen vertritt. Außerdem werden im Parlament wohl auch eine rechtsextreme und die Kommunistische Partei vertreten sein, beide sind prorussisch.
Staatspräsident Pavel warnt
Alarmiert von der Stimmungslage vor der Wahl, äußerte sich kürzlich in einem großen Interview mit dem Portal Aktualne auch der pro-europäische Staatspräsident Petr Pavel. Er reise häufig durchs Land, spreche mit vielen Menschen. Ihn erstaune, so Pavel, wie viele Tschechinnen und Tschechen den Zustand des Landes und die allgemeinen Lebensbedingungen als negativ beurteilten – obwohl es oft nachweislich anders sei, etwa, was die Gesundheitsversorgung oder die Kriminalität angehe.
Tschechiens Präsident Petr Pavel am Rande eines Treffens mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im März 2025Bild: Danylo Antoniuk/Anadolu/picture alliance
Zu denen, die ebenfalls offenbar so gut wie alles in der Tschechischen Republik als negativ beurteilen, gehören auch die drei Protagonisten in Robin Kvapils Film: Ivo, Nikola und Petra, zwei Männer und eine Frau, alle etwa Mitte fünfzig. Petra, Tochter aus einem kommunistischen Funktionärshaushalt, hat Theologie studiert, Nikola ist Viehzüchter, Ivo trifft man in einem Kleingarten. Er ist derjenige, der von sich sagt, er sei ein „Desolater“ und dass er im Internet nicht überprüfe, ob Nachrichten wahr seien, sondern ob sich ihr Inhalt für ihn „richtig anfühlt“.
Protagonisten per Zeitungsannonce gefunden
Robin Kvapil hat die drei durch ein Zeitungsinserat im September 2024 gefunden. Es lautete: „Für eine Dokumentation suchen wir Männer und Frauen, die Zweifel an den Informationen aus Mainstream-Medien über den Krieg in der Ukraine haben. Die Filmcrew gibt Ihnen die Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden.“
Filmemacher Kvapil ließ seine Protagonisten das Gesehene auch selbst filmen und kommentierenBild: Bontonfilm
Der Filmemacher lässt keinen Zweifel über seine eigenen Ansichten aufkommen – am Anfang des Filmes zeigt er Bilder vom sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei 1968, dann von der russischen Vollinvasion in der Ukraine 2022. Doch danach hält er sich komplett heraus. Er, sein Team und die drei Protagonisten fahren im Kleinbus von Tschechien in die ostukrainische Metropole Charkiw. Petra singt unterwegs die russische Nationalhymne.
Von erschütternd bis abscheulich
In Charkiw sehen die drei die massiven Zerstörungen in der Stadt, ein zerbombtes Krankenhaus, den Stadtteil Saltiwka – von russischen Bomben unbewohnbar gemacht. Sie besuchen Kinder, die in Bunkern lernen, sprechen mit Einwohnern, später fahren sie in ein Dorf in Frontnähe, dann in den Wald mit den Massengräbern bei Isjum.
Ivo, Nikola und Petra kommentieren das Gesehene – von erschütternd bis abscheulich. Raketen würden im Krieg eben auch daneben fliegen, aber sicher würden die Russen keine Zivilisten oder Kranken treffen wollen, sagen sie. In einer Szene „erklärt“ Nikola die Vergewaltigung von Kindern durch russische Soldaten mit deren „Notsituation“ – so seien eben Männer, die nochmal Freude haben wollten, wenn sie wüssten, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben hätten.
Die Kommentare von Ivo, Nikola und Petra wirken auf viele Zuschauer erschütterndBild: Stanislav Krupar/Punk Film
Manchmal scheinen Zweifel in die Gewissheiten der Protagonisten zu kriechen, zum Beispiel, wenn ein Mann davon erzählt, wie er seine Frau, seine Kinder und alle Nachbarn bei einem Bombenangriff verloren hat. Petra umarmt den Mann. Doch während man als Zuschauer darauf wartet, dass die drei endlich den Tatsachen ins Auge blicken, kommt die bedrückende Auflösung. Auf der Rückfahrt erklären Ivo, Nikola und Petra, dass sie nicht für die Tschechische Republik kämpfen und sterben wollen würden, da es dort für sie nichts Schützenswertes gebe. Dass der Zweck der Reise gewesen sei, sie „umzuerziehen“. Dass sie aber bei ihren Ansichten bleiben würden.
„Keine Übereinkunft um jeden Preis“
In der letzten Szene des Films sitzt Robin Kvapil mit den dreien zusammen und sagt: „Ich habe gelernt, dass es eine Welt gibt, in der das Böse gewinnt, wenn Leute wie Ivo, Nikola und Petra jetzt, nachdem sie alles gesehen haben, weiterhin die Narrative eines monströsen Regimes verbreiten, das Völkermord begeht. Und wenn sie im freien Westen Wahlen gewinnen und unser System schwächen, dann werden einige von uns vielleicht nicht mehr hier sein, weil irgendwer uns einfach umbringen wird.“
Nikola nickt. Dann sagt er: „Mein Freund, so wird es kommen.“ Es ist unklar, ob er das ernst meint oder ob es nur eine besonders perfide sarkastische Bemerkung ist. Kvapil sagt, er habe nachgefragt, Nikola habe geantwortet, er meine es ernst.
Es ist ein düsteres Ende. Robin Kvapil kommentiert es im Film mit einer persönlichen Schlussfolgerung: „Ich habe gelernt, dass ich es bin, der sich ändern muss. Der Versuch, jeden zu verstehen und eine Übereinkunft um jeden Preis zu erzielen, könnte unsere größte Quelle der Schwäche sein, wegen der diese Kriege verloren werden – zuerst der Informationskrieg, dann der wirkliche Krieg.“