Galerie mit 30 Bildern: Carcass – Hatebreed Tour 2025 in München
Man darf es sicherlich als Zeichen ganz großen Inhaltes werten, wenn es quer über den ganzen Planeten Bands gibt, die sich dem Vermächtnis eines Albums nicht nur stellen und dieses als Inspirationsquelle nutzen, sondern aus Gründen nur zur lupenreinen Kopie gelangen. Bei dem 1991er-Werk der Briten CARCASS mit dem Titel „Necroticism: Descanting The Insalubrious“ ist das zweifelsfrei der Fall. Von Skandinavien (GENERAL SURGERY) bis weit über den großen Teich (IMPALED, THE COUNTY MEDICAL EXAMINERS) verweisen jüngere Projekte immer wieder auf diesen Silberling, der zu seiner Zeit eigentlich nur den Übergang von zwei Phasen markierte, sich aber so insgeheim zum Opus Magnum des Quartetts mauserte.
Dabei ist die Konkurrenz nicht zu verachten: Der Vorgänger „Symphonies Of Sickness“ ist eine der abstoßendsten und ebenfalls richtungweisenden Mischbatterien aus Death Metal und Grindcore vor dem Jahr 1990 und das anschließende „Heartwork“ aufgrund seiner Hitdichte und seiner begnadeten Melodien der große Durchbruch für CARCASS. Allerdings dürfte kein Album von Frontmann Jeff Walker und seiner Gefolgschaft einen derartigen Einfluss genommen haben wie „Necroticism: Descanting The Insalubrious“.
Opus Magnum
In jedem Fall waren CARCASS in den späten Achtzigern und den frühen Neunzigern eine ambitionierte Band, die Wert darauf legte, musikalisch nicht auf der Stelle zu treten. Folglich buhlte man schon im Rahmen der Aufnahmen zum zweiten Full Length um die Dienste eines später erfolgreichen Gitarristen und Songwriters in Person von Michael Amott (ARCH ENEMY). Dieser war damals mit den DISMEMBER-Zwillingen CARNAGE unterwegs und lehnte zunächst einmal ab. Das Endergebnis von „Symphonies Of Sickness“ beeindruckte den Schweden dann aber so nachhaltig, dass er spät zu den Aufnahmen von „Necroticism: Descanting The Insalubrious“ doch als festes Bandmitglied hinzustieß.
Eigentlich konnte der Einfluss des zweiten Gitarristen ob des späten Einstiegs gar nicht so groß sein, denn Amott feilte lediglich noch an „Incarnated Solvent Abuse“ und „Corporal Jigsore Quandary“, doch die raumgreifenden Melodien auf dem dritten Album von CARCASS sprechen insgesamt bereits Bände. Schon der über siebenminütige Opener „Inpropagation“ zeigt, dass die Band aus Liverpool hier ein Riff- und Arrangementmassaker geschaffen hat, das sich die Hörer:innen erst erarbeiten müssen. Dabei fallen immer wieder Passagen auf, die von oben genannten Bands im Fahrwasser dieser Klassiker fast schon dreist geklaut wurden, und das häufiger. So zum Beispiel das markante Anfangsriff von „Symposium Of Sickness“ oder der rhythmische Flow auf „Corporal Jigsore Quandary“.
Verstümmelnder Eingriff mit medizinischer Präzision
Damals munkelte man, dass sich hinter den Bandmitgliedern mindestens Medizinstudenten verstecken könnten, doch Walker beteuerte immer wieder, dass man lediglich ekelhafte Praktiken mit menschlichen Körpern und Überresten medizinisch anspruchsvoll umschreiben wollte. Von klinischer Präzision ist auch die Produktion auf „Necroticism: Descanting The Insalubrious“ – jedenfalls im Vergleich zu seinen direkten Vorgängern. So sind massig vorhandene Disharmonien, Tempowechsel, hervorragende Soli und Breaks besser nachvollziehbar denn je.
Mit ihrem dritten Album „Necroticism: Descanting The Insalubrious“ entwickeln sich CARCASS weg vom groben Gedärme-Eintopf hin zu einem nicht minder verstümmelnden Eingriff mit medizinischer Präzision. Kultfaktor hin oder her, dieses Album ist qualitativ betrachtet ein Siebenmeilenschritt nach vorne und steht heute noch Pate für viele Platten und Bands. Kurz nach der Wende gab es im europäischen Death Metal nur wenig Besseres.