Was ist neu an der Mauer?

„Der Inhalt ist weniger dramatisch als der Titel“, stellt Max Waibel in seiner Rezension für MDR KULTUR fest. Kowalczuk und Ramelow ginge es nicht darum, einmal mehr auf das Trennende zwischen Ost und West hinzuweisen. Vielmehr bilanzierten sie als Zeithistoriker bzw. Politiker, wie Wende und Wiedervereinigung in ihrer Wahrnehmung gelaufen sind, „und wie wir jetzt, 35 Jahre später, in Deutschland dastehen“.

„Neu ist allenfalls die Situation, in der die beiden zusammenkommen, gekennzeichnet ist sie durch Putins Krieg gegen die Ukraine, aber auch die Bedrohung durch die Feinde der Demokratie im Innern, die mit dem Erstarken der AfD massiv zugenommen hat“. Inwieweit Versäumnisse aus der Zeit von Wende und Wiedervereinigung damit zu tun haben, darüber tauschten sich Kowalczuk und Ramelow mit ihrer jeweiligen Expertise aus:

„Kowalczuk wird ja gern als ‚Punk‘ unter den deutschen Historikern bezeichnet, er ist keiner Institution verpflichtet und hat beachtete Fachbücher über den Osten geschrieben. Zugleich hat er in hochkarätigen Kommissionen mitgearbeitet“, merkt Waibel dazu an. Als linker Ministerpräsident einer Minderheitsregierung habe Ramelow in der politischen Praxis einige Stürme in Thüringen hinter sich gebracht.

Es war ja nicht alles schlecht – an der Treuhand?

Gleich im ersten Kapitel des Gesprächsbuches blickten beide auf den „Lieblingsfeind Treuhand“, so die „spöttisch-ambivalent“ scheinende Überschrift. Doch das Kapitel, in dem es um die Deindustrialisierung im Osten, um Marktbereinigung oder das Aus fürs Kali-Werk im thüringischen Bischofferode geht, birgt aus Sicht von Waibel eine Überraschung. Kowalczuk, der in seinem Buch „Die Übernahme“ noch hart mit der Treuhand abgerechnet habe, verweise auf den neuen Stand der Forschung zur Treuhand und plädiere dafür, „dass es vielleicht doch an der Zeit ist, bei aller Kritik, deren Wirken differenzierter zu sehen als bisher: „Das ist ein neuer Ton.“ Ähnlich sehe das Ramelow, der damals als Gewerkschafter in den Arbeitskampf in Bischofferode involviert war.

Interessante Einblicke in Bodo Ramelows Karriere

Spannend sei das Buch an den Stellen, an denen beispielsweise Ramelow einen Blick ins Nähkästchen seiner Gewerkschaftsarbeit kurz nach der Wende oder als Thüringer Ministerpräsident erlaube. Dann werde am ganz konkreten Beispiel deutlich, wie er z.B. versucht habe, die Arbeitsplätze beim Thüringer Konsum zu retten und wie er damit scheiterte.

Kowalczuk wiederum verweise auf eine folgenreiche Fehlwahrnehmung des Westens, dass es sich bei der DDR um die zehntgrößte Industrienation der Welt gehandelt habe: „Ein schwerer Trugschluss, dem ein böses Erwachen folgte.“

Neue Ideen für die Demokratie?

Wie das Erleben radikaler Brüche zur Angst vor Veränderung und in eine toxische Stimmung führen kann, auch darüber debattieren beide. Ramelow plädiere dafür, mehr Elemente der direkten Demokratie einzuführen, um Menschen näher an die politischen Entscheidungen heranzubringen. Kowalczuk hat den „Freiheitsschock“ der Ostdeutschen nach 1989 bereits eingehend analysiert und immer wieder appelliert, „sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen“. Im Gespräch mit Ramelow kommt er Waibel zufolge auch auf eine neue, gemeinsame Verfassung zu sprechen, die das Grundgesetz ablösen sollte. „Eine Debatte darüber würde auch den Menschen im Westen zeigen, dass sich mit der Wiedervereinigung etwas in Ost und West verändert hat“, fasst Waibel zusammen.

Weitgehend harmonisch, trotzdem spannend

Erstaunlich einträchtig wirke das Gespräch zwischen Kowalczuk und Ramelow, findet Waibel. Streit gebe es nur wenig. Kowalczuk kritisiere einmal, dass die PDS/Die Linke immer einen Vertretungsanspruch für einen „homogenen Osten“ reklamiert habe. Die Rede vom kollektivistischen „Wir“ habe niemand so gut beherrscht wie Gregor Gysi. Kowalczuk aber bestreite vehement, dass es diesen homogenen Osten gab, „nicht vor und auch nicht nach 1989“.

Was das Gesprächsbuch nicht mitliefere, seien Quellen oder der genaue Kontext zu den geschilderten Erlebnissen, betont Waibel in seiner Rezension. Empfehlenswert sei das Buch deswegen besonders „für alle, die mit den Basisdaten zur Geschichten von Wende und Wiedervereinigung vertraut sind“. Dann seien die persönlichen Erlebnisse und Einschätzungen spannend und lesenswert, sie lieferten zusätzliche Informationen zu den Sachbüchern, die es zur Ost-West-Debatte schon gibt.