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Das Kernteam der nächsten documenta in Kassel besteht ausschließlich aus Frauen – und einige Männer fühlen sich benachteiligt. Geht‘s noch? Der Schritt ist überfällig, meint unser Autor.

Kassel – Das Foto, das am Montag von Kassel aus in der Kunstwelt verbreitet wurde, ist auf mehreren Ebenen bemerkenswert. Das Foto zeigt die Künstlerische Leiterin der documenta 16 mit ihrem Kernteam.

Das Künstlerische Team der documenta besteht nur aus Frauen: Romi Crawford (von links), Mayra A. Rodríguez Castro, Xiaoyu Weng, Carla Acevedo-Yates und Leiterin Naomi Beckwith im Treppenhaus der AOK. Das Künstlerische Team der documenta besteht nur aus Frauen: Romi Crawford (von links), Mayra A. Rodríguez Castro, Xiaoyu Weng, Carla Acevedo-Yates und Leiterin Naomi Beckwith im Treppenhaus der AOK. © Foto: Nicolas Wefers/documenta

Naomi Beckwith, in die halb Kassel im übertragenen Sinn verknallt ist seit ihrer Vorstellung im Dezember 2024, steht mit den vier anderen Frauen im Treppenhaus der AOK Hessen an der Schönen Aussicht. Romi Crawford, Mayra A. Rodríguez Castro, Xiaoyu Weng und Carla Acevedo-Yates sind zeitlos elegant und zugleich lässig gekleidet. Das Quintett sieht aus wie eine Supergroup aus New York, wie Bands genannt werden, deren Musiker vorher schon in anderen bekannten Formationen spielten (dabei kommt ein Großteil der Team-Mitglieder aus Chicago).

Unverständnis im Netz über Belegung des Kuratorenteams der documenta 16 in Kassel

Und es sind eben alles Frauen, was im Netz bei Männern sofort zu einigen Reaktionen führte. Ein Dirk schrieb: „Feministische Selbstüberschätzung, wie immer! Aber Vielfalt heucheln. Fragt sich nur wo?“ Ein Alexander notierte: „Geschlechtsfixierung und Documentaschrott. Passt.“ Ein Christian befürchtet: „Die Kunst wird dann wahrscheinlich hauptsächlich daraus bestehen, wie scheiße Männer sind.“ Und ein Kalle meinte nur: „Na toll.“

Die einen nennen das Treffen im Kanzleramt einen Investitionsgipfel, die anderen finden viel Lärm um nichts.  Investitionsgipfel im Kanzleramt Ende Juli: Unter den 61 Wirtschaftsbossen war lediglich eine Frau. Neben Bettina Orlopp von der Commerzbank (rechts) durfte immerhin auch Wirtschaftsministerin Katharina Reiche mit aufs Foto. © Katharina Kausche/dpa

Die Frage, die man aus all den Kommentaren herauslesen kann, lautet: Welche Gesellschaft soll das denn abbilden? Der Satz wurde einst auch von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer ins Internet geschrieben. Er kritisierte damit eine Kampagne der Deutschen Bahn, weil ihm die abgebildeten Menschen dort zu divers waren. Nun finden einige Männer, dass die documenta zu wenig divers ist, also zu wenig männlich. Es klingt wie ein schlechter Witz.

Zu wenige Frauen in Führungspositionen

Auch als Mann muss man sich da an den Kopf fassen, weil es ganz offensichtlich ist, wie patriarchal die Gesellschaft immer noch geprägt ist. Überall gibt es zu wenig Frauen in Führungspositionen. Frauen werden in allen gesellschaftlichen Bereichen benachteiligt und verdienen auch weniger als Männer. Trotzdem soll es ein Problem sein, wenn die nächste documenta vor allem von Frauen kuratiert wird?

Vor wenigen Wochen lud Bundeskanzler Friedrich Merz zum Investitionsgipfel ins Kanzleramt. Zur Erinnerung: Der Mann aus dem Sauerland machte im Frühjahr Schlagzeilen mit einem Bild, das ihn und fünf andere Männer aus CDU und CSU zeigte, die den Politikwechsel in Deutschland vorbereiteten, wie sein Kollege Markus Söder schrieb. Für eine Frau war am Tisch kein Platz mehr.

Trotz Belegung des Kernteams der documenta 16 mit Frauen: Noch immer Geschlechter-Ungleichgewicht

Beim Investitionsgipfel brachte Merz im Juli schließlich 61 Vorstandschefs zusammen, darunter war eine einzige (!) Frau: Bettina Orlopp von der Commerzbank. Immerhin durfte Wirtschaftsministerin Katharina Reiche auch mit aufs Foto. Ein ausdrucksstärkeres Symbolbild für das Patriarchat in Deutschland hätte es kaum geben können.

Auch in der Region zeigt sich das Ungleichgewicht. Der Vorstand der Kasseler Sparkasse besteht ausschließlich aus Männern. Im Landkreis Kassel gibt es 28 Kommunen, aber keine einzige Bürgermeisterin. Und als die Kasseler FDP vor einem Jahr ein Bild ihres Vorstands veröffentlichte, waren darauf zwölf Männer zu sehen und nur eine Frau. Der Chef der Liberalen, Matthias Nölke, verwies auf den Frauenförderplan seiner Partei: „Indem die FDP Frauen fördert, kann sie als Vorbild für andere Parteien und Organisationen fungieren.“

documenta 16 in Kassel wird von Frauen kuratiert: Nutzer fordert Konzentration aufs Sachliche

Als Mann muss man feststellen: Wir selbst sind ein großer Teil des Problems. Die Kollegin aus dem Digitalteam berichtet, dass vor allem männliche Nutzer gesperrt werden müssen, weil sie etwa auf Facebook Kommentare posten, die nicht nur gegen die Netiquette verstoßen, sondern auch strafrechtlich relevant sein können. Gegen toxische Männlichkeit ist bislang noch kein Kraut gewachsen.

Vielleicht wird die nächste documenta die Welt ein bisschen gerechter machen, vielleicht aber auch nicht. Unter dem Bild von Naomi Beckwith und den anderen vier Frauen schrieb übrigens ein Julian, es sei doch egal, wer im Kernteam der documenta sei. Er forderte nur: „Rockt das Ding.“ (Matthias Lohr)

Noch bis zum 31. August ist indes die Ausstellung des Windkunstfestivals „bewegter wind“ rund um die Alte Warte bei Zierenberg zu besichtigen.