In den späten Neunzigerjahren machte der Namen Rokytník in der europäischen Fotoszene die Runde – und Jitka Hanzlová schnell bekannt. Heute zählt sie zur Oberliga der Fotokunst. Institutionen in Deutschland, Frankreich und London zeigten ihre frühen Bilder, auch die Wiener Fotogalerie im WUK gehörte zu den Pionieren. Hier war die von 1990 bis 1994 in Hanzlovás nordböhmischem Herkunftsdorf entstandene 59-teilige Sammlung „Rokytník“ bereits 1996 zu sehen.
Nun kehrte sie nach Österreich zurück, im Rahmen einer umfassenden, von Walter Moser perfekt kuratierten Personale in der Albertina, gemeinsam mit späteren Zyklen, darunter bekannte wie „Female“, „Horse“ oder „Forest“, aber auch „Hier“, „There Is Something I Don’t Know“ und als neueste „Bohdanka“, eine Langzeitbeobachtung aus Rokytník.
Das entscheidende Jahr war 1989. Sieben Jahre vorher war die damals 23-Jährige aus der kommunistischen Diktatur nach Deutschland geflohen. In Bochum, wo Hanzlová bis heute lebt, hat sie Visuelle Kommunikation und Fotografie studiert. Durch den Abriss aller Verbindungslinien zu Familie, Sprache und Heimat habe sie sich „wie auf einem Bein“ gefühlt. Doch das hielt sie wach und schärfte den Blick. Als 1989 die ČSSR völlig unerwartet kollabierte, konnte die Exilantin erstmals wieder zurück nach Rokytník, mehrmals pro Jahr, um die Menschen und Orte, die sie kannte, wieder und nun neu zu sehen. Ein kleines Dorf abseits der modernen Metropolen und doch zentral in Europa gelegen. In den frühen Neunzigerjahren konnte im aus der Zeit gefallenen Rokytník wie in einem Brennglas beobachtet werden, wie die Ost-Ärmlichkeit im Verschwinden begriffen war und langsam von ersten Zeichen des West-Kapitalismus überlagert wurde.
Der lange Atem des kleinen Glücks
Hanzlová agierte als Insiderin, anders als Bildreporter, TV-Teams und Fotoessayisten der Magnum-Schule, die den Systemtransfer auf die Schnelle und mit spektakulären Motiven einfangen wollten. Sie konnte sich Zeit lassen, um zu allen Jahreszeiten Nahaufnahmen von Menschen und ihrem Naturumfeld einzufangen. In Gesprächen sagt sie gern: „Ich suche nicht, ich finde.“ Kein einziges Mal kommt das gesamte Dorf in den Blick, Panoramen sind nicht Sache dieser Fotografin. Neben Kindern, Bauern, alten Leuten, Tieren und einfachen Häusern finden sich auch Hinweise auf die alltäglichen Lebensumstände: Wäsche auf der Leine, selbst gebasteltes Spielzeug, alte Skier, der Kessel eines Schnapsbrenners oder ein blühender Obstbaum in grüner Weite – der lange Atem des kleinen Glücks in schweren Zeiten. Was bildwürdig sein könnte, wird intuitiv und subjektiv entschieden. So behutsam und liebevoll Hanzlovás Annäherung auch ist, so präzise, streng klassisch komponiert, strukturell und reich an Realität sind ihre Funde.
Also ein Gegenmodell zum quasisoziologischen Recherchematerial, mit dem in Kunstinstallationen allzu oft Wände und Räume wichtigtuerisch und langweilig vollgeräumt werden. Ein Geheimnis dieser Fotografien, bei denen gelegentlich auch Witz aufblitzt, ist die zarte, zurückgenommene Farbigkeit, wobei im Vordergrund insuläre Orange- oder Rotakzente als Blickfang dienen.
Komplizenschaft mit fremden Frauen
Anders als das dörfliche Poem, nämlich mit vorher definiertem Konzept, entstand die Folgeserie „Female“ (1997–2000) mit Frauenporträts in großstädtischem Umfeld, entstanden in Düsseldorf, London und Los Angeles. Die Fotografin hat in Parks und Straßen Frauen, denen sie zufällig begegnet ist, angesprochen und mit ihnen stille Interaktionen gesucht. Es handelt sich durchwegs um Dreiviertelporträts aus Halbdistanz, die Frauen blicken mit unbewegter Miene und ernst in die Kamera. Chiffren wie Kleidung, Frisur oder Schmuck laden ebenso wie die Körpersprache diskret dazu ein, Vermutungen über ihre Lebenswelt oder soziale Stellung anzustellen. Hanzlová ging es dabei darum, Individualität und „emotionale Zustände“ einzufangen, in einem Katalogtext war von „scheuer Komplizenschaft“ und einer „Intimität des Unbekannten“ die Rede.
Bedrohliche Wälder
An die Grenzen des Fotografierbaren ging Hanzlová, als sie durch Wälder in der Umgebung ihres Heimatdorfs streifte, auch bei Nacht. Um Pathos und die Stereotypen des zu Tode fotografierten Sujets zu konterkarieren, beschränkte sie sich im Zyklus „Forest“ auf Atmosphärisches und extreme Bildaus- und -anschnitte. Wie immer bei Hanzlová kommen einander Härte und Schönheit nahe. Was aus größerem Abstand monochrom finster erscheint, lässt im „Nahblick“ bedrohliches Astgewirr und Übergänge von dunklem Blau in beinahe Schwarz erkennen. Angsteinflößende Zustände in Wäldern kenne sie nicht nur aus ihrer Kindheit, erzählt die Fotografin, sondern überfielen sie bis heute. Unberührt ist die Natur bei Hanzlová nie, so der Schriftsteller John Berger über „Forest“ – aber es zeige sich „eine Ahnung von Unendlichkeit“.
Für das Außergewöhnliche von Hanzlovás über das Sichtbare hinausgehende Bildsprache haben sich beliebte Begriffe wie behutsam oder einfühlend etabliert, kombiniert mit unsentimental und kühl. Der Spielraum, der das Anschauen so kurzweilig macht, gibt der Schau Gewicht. Man ist von der Albertina gewohnt, knallig mit prominenten Namen zu locken. Doch zeigt sich, dass sich auch ein Überblick über das Werk einer eher als Spezialistin bekannten Künstlerin schnell herumspricht und kein Nebenangebot sein muss.