Ein totes Mädchen sitzt auf einem Canapé: strenge blonde Zöpfe, schwarzes Kleid. Die Fotografie ist verschwommen. Ein Totenbild wie aus dem Gruselfilm „The Others“. Für die Mädchen, die sich neugierig davor aufgestellt haben, gehört so etwas zum Alltag.

Eine von ihnen sieht aus wie die Tote – wie ihre Schwestern auf Plattdeutsch behaupten – und sie heißt auch so: Alma. Die Idee, dass auch sie sterben muss, lässt die lebendige Alma von nun an nicht mehr los. Und der Tod ist immer da.

Film spielt in der Altmark

Alma lebt zur Zeit des Ersten Weltkrieges auf einem Vierseitenhof in der Altmark, einer bis heute abgelegenen Region im nördlichen Sachsen-Anhalt. Sie erlebt alles um sich herum mit fiebriger Intensität. „In die Sonne schauen“ erzählt aber auch von Erika, Angelika und Nelly, die ebenfalls an diesem Ort leben, jedoch nicht zur selben Zeit.

Es geht natürlich in dem Film auch darum, welchen Blicken Frauen ein Jahrhundert lang unterworfen sind. Und die Frauen im Film blicken halt auch zurück.

Regisseurin Mascha Schilinski

Angelika beispielsweise ist eine Teenagerin in den 80er-Jahren in der DDR. Ihr Schwimmlehrer ist ihr Onkel, der ihr begehrliche Blicke zuwirft. Ihr Cousin tut das ebenso. Angelika fühlt sich in die Enge getrieben, während sie zugleich ihr eigenes sexuelles Erwachen erlebt.

Durch historische Fotografie inspiriert

Inspiriert wurde der Film durch eine Fotografie, die vor 100 Jahren aufgenommen wurde, erzählt Regisseurin Mascha Schilinski. Sie und ihre Co-Autorin Louise Peter hätten das Bild am späteren Drehort gefunden: Es zeige drei Frauen unterschiedlichen Alters, die mitten auf einem Hof stehen und direkt in die Kamera blicken – umgeben von Hühnern, ganz ungestellt, natürlich.

„Dieser Blick von diesen drei Frauen, die auch im unterschiedlichen Alter waren, hat uns total berührt“, sagt die Regisseurin. „Weil es dieser Blick durch die vierte Dimension war, der uns direkt angeblickt hat.“ Und so gehe es im Film auch darum, welchen Blicken Frauen ein Jahrhundert lang unterworfen waren. „Die Frauen in diesem Film, könnte man sagen, blicken halt auch zurück“, erklärt Schilinski.

Kino-Film, der berauscht

Die Frauen im Film stehen durch ihre Blicke miteinander in Verbindung. Es ist, als ob sie durch die Zeit hindurchblickten. Erzählt wird nicht chronologisch, sondern momenthaft und assoziativ. Es ist ein Strom von Bildern, in dem auch Gedanken auftauchen, unterschiedliche Stimmen, Erinnerungsfragmente.

Aus der subjektiven Wahrnehmung wird eine intersubjektive Erzählung. Wie das montiert ist, hat eine berauschende Wirkung. Dabei ist es nicht nur das große Thema der Vergänglichkeit, das der Film auf so sinnliche wie unkonventionelle Weise abbildet.

Zwischen Traumata, Erinnerung und Traum

Erfahrbar wird durch die Machart auch, wie sich das Leben auf dem Hof innerhalb von hundert Jahren verändert: von einem strengen, geregelten Arbeitsalltag einer bäuerlichen Großfamilie in der Alma-Geschichte bis zur Berliner-Bohème-Familie, die den verlassenen Ort heute entdeckt, um daraus eine Art Bullerbü zu machen.

Die Ahnen sind auf ihre Weise dabei immer präsent. Ihre Erfahrungen und Traumata haben sich in dem Ort eingeprägt, steuern das Verhalten derer, die folgen – sogar über Familienbanden hinaus. Von einem Schmetterlingseffekt spricht Mascha Schilinski: Ein Flügelschlag reicht, um eine Kettenreaktion anzustoßen.

„In die Sonne schauen“ bildet eine kollektive, vielleicht auch metaphysische Erfahrung ab. Es ist der bemerkenswerte Versuch, das Kino von alten Erzählformen zu entstauben – zugunsten eines Erzählens, das mehr der Erinnerung und dem Traum ähnelt. Die Welt hinterlässt ihren Abdruck auf der Netzhaut.