Cover:  Annie Ernaux: "Die Besessenheit"

Stand: 22.08.2025 06:00 Uhr

23 Jahre nach der Publikation in Frankreich ist Annie Ernaux‘ Buch „L’occupation“ nun erstmals auf Deutsch erschienen. Ein starker Text über die Eifersucht, der die Leserin körperlich mitleiden lässt.

von Tilla Fuchs, SR

Obwohl sie ihn verlassen hat, fühlt sie starke Eifersucht, als er eine Beziehung mit einer anderen Frau eingeht: Die obsessive Beschäftigung mit „der Neuen“, wird zur Qual, zur titelgebenden Besessenheit.

Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet ist.

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Buchcover: Annie Ernaux, "Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus"

Ein schmerzhafter Bericht über Ernaux‘ Hilflosigkeit, als ihre Mutter in stationärer Langzeitpflege in der Demenz versinkt.

Wieder kreist Ernaux schreibend um ein Tabu

Die Ich-Erzählerin dieses kurzen kreativen Exorzismus‘ fällt wahrscheinlich auch diesmal mit der Autorin Annie Ernaux zusammen. In diesem wahrscheinlich aber liegt alles: Schutz und Freiheit, Worte, die sie zwischen sich und die Gegenwart setzt – Literatur eben. Wieder kreist Ernaux schreibend ein Tabu ein. Wobei das Verbotene hier nicht in der minutiös sezierten Eifersucht liegt, sondern wie in Ernaux‘ Buch „Der junge Mann“ darin, dass eine ältere Frau eine Beziehung zu einem deutlich Jüngeren beschreibt, meint ihre Übersetzerin Sonja Finck: „Das ist tatsächlich immer noch ein Tabu. Da muss man sich nur angucken, wie die Medien mit Emmanuel Macron und seiner Frau umgehen.“

Sprache, Radikalität und Wirkung: Die Kunst der Übersetzung

Der war bei Erscheinen des Buches, 2002, aber noch gar nicht im Amt, erinnert Sonja Finck, und es existierten in Frankreich noch so drollige Dinge wie der Internet-Vorläufer Minitel, über das die Erzählerin die Spuren der Neuen verfolgt. Finck beschreibt, was diese verschobene Übersetzung für ihre Arbeit und das deutschsprachige Publikum bedeutet: „Es spielt insofern eine Rolle, als dass ich mir überlege: Wie muss die Wirkung damals auf die Leserschaft gewesen sein? Gerade wenn der Abstand größer ist. Bei ‚Die Besessenheit ein Vierteljahrhundert‘, bei ‚Die leeren Schränke‘ waren es 50 Jahre Abstand.“

Dann denke sie immer: „Das Buch erscheint auf mich schon so radikal, so zeitgenössisch – wie muss das auf die Leute vor 25 oder sogar 50 Jahren gewirkt haben? In ihrer Offenheit, wie sie über Sexualität schreibt, in ihrer Thematisierung der Klassenunterschiede und so weiter. Heute sind wir mit ganz anderen Wassern gewaschen aus den Medien – damals muss das noch viel mehr eingeschlagen haben. Dann denke ich bei Übersetzungsentscheidungen immer: Ich muss das so radikal wie möglich übersetzen, damit vielleicht noch ein bisschen von dem Schock rüberkommt.“

Warum aus „L’occupation“ „Die Besessenheit“ wurde

Doch nicht nur in der Anpassung der Radikalität eines Textes an das Hier und Jetzt zeigt sich, wie fein Ernaux‘ Exegetin arbeitet. Es beginnt in diesem Fall beim Titel, „Die Besessenheit“, der vom französischen „L’occupation“, die Besatzung, bewusst abweicht: „Während man bei ‚l’occupation‘ im Französischen zuerst an die deutsche Besetzung Frankreichs denkt, hat ‚Besatzung‘ im Deutschen nicht diese Konnotation. Das Wort ist viel allgemeiner. Wenn man aus Sicht der damaligen Täter das Buch auf Deutsch ‚Besatzung‘ nennt, hätte ich das schräg gefunden. Letztlich geht es ihr gar nicht um die politische oder kriegerische Besatzung, sondern es geht in dem Buch darum, dass diese andere Frau, auf die sie eifersüchtig ist, ihren Körper komplett in Beschlag nimmt. Ich habe das im Text aufgefangen, indem ich an ein paar entscheidenden Stellen von ‚besetzen‘, ‚überfallen‘ schreibe. Aber als Schlüsselwort wollte ich das nicht im Text haben.“

Literatur als Spiegel der Wirklichkeit

„Die Besessenheit“ beschreibt eines der Lebensthemen der heute 84-jährigen Autorin, klar abgegrenzt, als würde sie Schubladen eines gut gefüllten Schrankes öffnen, Fächer, in denen die Etappen ihres Lebens liegen wie sauber gefaltete Kleidung: die Herkunft, die Scham, die Abtreibung – die Eifersucht:

Schreiben ist für mich eine Möglichkeit gewesen, das zu retten, was schon nicht mehr meine Realität ist, keine Empfindung mehr, die mich auf der Straße überfällt und von Kopf bis Fuß erfasst, sondern nur noch „die Besessenheit“, ein klar umrissener Zeitraum der Vergangenheit.

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In diesem starken Text über die Eifersucht, der die Leserin körperlich mitleiden lässt und sich bis in Stalking- und Gewaltfantasien steigert, öffnet Ernaux wie nebenbei die größere Dimension dieses Gefühls:

Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.

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Cover:  Annie Ernaux: "Die Besessenheit"

Die Besessenheit

von Annie  Ernaux

Seitenzahl:
66 Seiten
Genre:
Roman
Zusatzinfo:
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Verlag:
Suhrkamp
ISBN:
978-3-518-22562-2
Preis:
20 €

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