So kann es gehen, wenn man am sehr späten Abend einen letzten Blick auf den Tracker wirft und morgens wieder schaut: Team Malizia – kurz vor Mitternacht im Endspurt auf Etappe zwei im Ocean Race Europe noch 104 Seemeilen hinter der Spitze zurück – hat den Rückstand am Freitagmorgen um sagenhafte fast 70 Seemeilen verkürzt. Der Grund dafür ist ein für das Mittelmeer typisches nächtliches Flautenszenario, in dem die führenden Boote kaum vorangekommen waren.
Nach der Passage der Straße von Gibraltar quälen sich die führenden Boote mit nur wenigen Knoten Bootsgeschwindigkeit im Alborán-Meer vor der spanischen Küste dem nächsten Etappenhafen Cartagena entgegen. Mit ein paar Knoten mehr konnten Allagrande Mapei Racing und “Malizia – Seaexplorer” viel Boden gutmachen. Hier geht es zum Lice-Tracking und den sich ständig ändernden Positionen.
Die Straße von Gibraltar hatte am Donnerstag spektakuläre Szenen geboten, als die führenden Boote des Ocean Race ins Mittelmeer einfuhren. Für “Paprec Arkéa” beispielsweise, die zu diesem Zeitpunkt noch in Führung lag, verlief die Gibraltar-Passage überraschend ruhig, obwohl die Wasserstraße als eine der verkehrsreichsten der Welt gilt.
Etappe 2 im Ocean Race Europe: Wind ausgeschaltet
Anbordreporter Julien Champolion hielt den Gibraltar-Moment mit einer Drohne fest. Dabei entstanden beeindruckende Aufnahmen der durch die flache See pflügenden Imoca, mit klarem Himmel über sich und dem Land in der Ferne. Auch andere Anbordreporter lieferten zuletzt sehenswerte Bilder, die in der Galerie zu sehen sind.
Die fünf vorderen Teams waren bei noch günstigen Downwind-Bedingungen durch die berühmte Meerenge gekommen, bevor sie wie gegen eine Wand fuhren und unbarmherzig ihre bis dahin erkämpften Vorsprünge nach und nach einbüßten. Als hätte jemand den Wind einfach ausgeschaltet, kamen die eben noch genossene flotten Fahrten im windarmen Alborán-Meer fast vollständig zum Erliegen.
Die neu sortierten Top-Drei – ”Biotherm”, “Team Holcim-PRB” und “Paprec Arkéa” – trennte im Flautenpoker am Freitagmorgen nur wenige Seemeilen, während Allagrande Mapei Racing und Team Malizia von hinten weiter schnell aufkamen. Alles ist im fordernden Endspurt auf dieser zweiten Etappe im Ocean Race Europe angerichtet für ein kriminal spannendes Finale auf Kurs Etappenhafen Cartagena. Dort werden die ersten Boote nach jüngsten Informationen aus dem Rennhauptquartier ab späten Nachmittag, vielleicht aber auch erst über Nacht erwartet.
Positionskämpfe in flauen Winden
Im krassen Gegensatz zur flauen Lage auf See steht die Stimmung an Bord der Imocas: Leichtwindqualitäten sind ebenso gefordert wie ein wenig Fortune. “Paprec Arkéa”, die seit Dienstag in Führung lag, hatte Gibraltar als Erste passiert. Die Franzosen hatten sich in noch guten Bedingungen zunächst leicht absetzen können. „Wir haben in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag mit einer guten Segelkonfiguration einen großartigen Zug gemacht und rund 30 Knoten erreicht”, erklärte Skipper Yoann Richomme. Solche Geschwindigkeiten waren am Freitag nur noch ein schöner Traum.
Der Ventilator hat sich komplett ausgeschaltet.” Yoann Richomme
Weiter sagte der “Paprec Arkéa”-Skipper, dessen damaliges Team das erste Ocean Race Europe 2021 mit der in der vor vier Jahren noch aktiven Klasse VO65 gewonnen hatte: „Es hat uns geholfen, vor Gibraltar etwas weiter nach Süden zu fahren. Dann haben wir noch einmal starken Wind erwischt, bevor wir in eine wirklich große Flaute gerieten. Wir sind innerhalb von zehn Sekunden von 25 Knoten auf vier Knoten gefallen!“
Auch das Team Holcim-PRB hatte die Passage um Gibraltar noch zu seinem Vorteil nutzen können. „Nach einer schönen Passage mit starkem Westwind im Rücken kamen wir in viel ruhigere Übergangszonen“, fasste Franck Cammas den Verlauf zusammen. Der Crew um “Holcim-PRB”-Skipperin Rosalin Kuiper gelang, die bisherige Ocean-Race-Europe-Dominatorin “Biotherm” einzuholen.
„An einem Punkt waren wir nur noch drei Meilen entfernt, bevor sich der Abstand wieder vergrößerte“, erinnert sich Cammas. Unterhalb der spanischen Küste belauern sich die Boote nun: vorne das Triple, keine 40 Seemeilen mehr dahinter Allagrande Mapei Racing und Team Malizia. „Unter diesen Bedingungen gibt es immer eine Chance für die hinteren Boote, wieder aufzuholen“, wusste nicht nur Franck Cammas. Einen halben Tag vor dem Ziel in Cartagena ist noch nichts entschieden.
Ocean Race Europe: alles noch offen
„Wir haben noch mehrere Übergänge vor uns – es wird sehr unvorhersehbar“, sagte Richomme. „Wir rechnen mit einem Wechsel von West- zu Ostwind, aber die Brise wird den ganzen Tag über sehr schwach bleiben.“ Franck Cammas pflichtete ihm am Freitagmorgen bei: „Wir werden bei leichtem Wind vorankommen, gegen den Wind segeln und auf die Nordostbrise warten, die uns in die richtige Position bringt. Es könnte eine lange Strecke werden, aber wir werden versuchen, jede Gelegenheit zu nutzen. Das ist das Schöne am Mittelmeer – zumindest ist noch alles offen und noch nichts entschieden!“
Der Segelthriller spielt sich auf bildschöner Bühne in Zeitlupe ab, wie Team Malizias Anbordreporterin Flore Hartout berichtete: “Es wird wärmer und das Meer leuchtet in prächtigem Blau – wir müssen uns dem Mittelmeer nähern! Die Crew bleibt wachsam, um Windänderungen, mögliche Orcasichtungen und Fischereifahrzeuge zu erkennen. Wie Frankie sagt: ‘Es ist erst vorbei, wenn es vorbei ist. Der Kampf geht weiter und jede Minute zählt.’”
“Nicht schneller, aber mit besserem Winkel”, sagte Loïs Berrehar. Wie “Malizia – Seaexplorer” in fordernder Verfolger-Situation die Aufholjagd gelang. Der Clip von Donnerstagabend zeigt auch, dass die Segler im Dauer-Beat auf der komplexen zweiten Etappe im Ocean Race Europe gegen die Müdigkeit anzukämpfen haben: