Der Bahnhof Lichtenberg ist seit Jahrzehnten ein Brennpunkt der Obdachlosigkeit, das war schon zu DDR-Zeiten so. „Und täglich gehen tausende daran vorbei, direkt hier“, sagt Regisseur und Schauspieler Martin Heesch. „Bis vor drei Wochen hat noch jemand dort vorne unter dem Dach gewohnt“, fügt er hinzu und zeigt auf das Vordach eines Fahrradständers.
Mit dem Festival „Hinschauen!“ will Heesch auf die Situation aufmerksam machen. Vom 28. August bis 1. September, jeweils von 15 bis 22 Uhr, wird der Eugenio-Botnari-Platz vor dem Bahnhof Lichtenberg zur Bühne für Straßenmusiker – und das bereits zum zweiten Mal. Eine Bühne wird es nicht geben, dafür einen roten Teppich und das ist Teil des Konzepts: „Gespielt wird hier direkt auf der Straße“, sagt Heesch.
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Das Festival startet am Donnerstag, 28. August, mit einer Theaterperformance um 19 Uhr, gefolgt von Straßenmusik. Eröffnet wird „Hinschauen“ um 18 Uhr von Bezirksbürgermeister Martin Schaefer (CDU), der die Schirmherrschaft übernommen hat. Ab Freitag wird auf dem Eugeniu-Botnari-Platz eine Audio-Installation und eine Open-Air-Ausstellung gezeigt, zudem präsentieren sich verschiedene Berliner Initiativen. Am Abend um 18.30 Uhr gibt es ein Podiumsgespräch mit Weitlingkiez-Urgestein Sito Kranke, Streetworker Stefan Schützler und Ines Tesch, Erzieherin in der Robinson Grundschule.
Am Samstag gibt es eine Gratis Haar- und Bartschneideaktion ab 14 Uhr für Betroffene. Die Berliner Obdachlosenhilfe ist ganztägig mit einer Kleiderausgabe vor Ort. Ab 17 Uhr beginnt das Herzstück des Festivals, die Auftritte der Berliner Straßenmusikerinnen und -musiker. Am Sonntag endet das Festival mit Theater und Musik ab 16 Uhr. Details zum Programm finden Sie hier.
Interviews mit Obdachlosen
„Es macht mich wirklich wütend, dass wir in einer so reichen Stadt wie Berlin leben und trotzdem die Wohnungslosigkeit nicht den Griff bekommen“, erklärt Heesch seine Motivation. Eine Zeit lang engagierte er sich selbst ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission. 2023 erhielt der Künstler ein Stipendium für ein Projekt: Er führte 25 Interviews mit Obdachlosen, einen großen Teil davon am Bahnhof Lichtenberg.
Immer mehr Menschen obdachlos
Januar 2025 haben die Bezirke über 53.600 wohnungs- und obdachlose Menschen untergebracht. Zum Stichtag vor drei Jahren waren es noch knapp die Hälfte.
Bis 2029 könnte sich die Zahl laut einer Senatsprognose auf mehr als 85.600 Menschen erhöhen.
Die Zahlen bilden nur einen Teil der realen Obdachlosigkeit ab. Die Dunkelziffer, also Menschen ohne Obdach, die nicht vom Bezirk untergebracht sind, dürfte weitaus höher liegen.
„Irgendwann stellte sich die Frage: Was mache ich damit? Es sollte kein Theaterstück für irgendeine Bühne werden. Es sollte auf der Straße bleiben“, sagt Heesch. So entstand zuerst die Idee einer Audio-Installation, die die Geschichten der Betroffenen hörbar macht – und bald schon die Vision eines ganzen Festivals.
Es gelang ihm Fördermittel zu besorgen, im ersten Jahr sogar für zwei Festival-Stationen, einmal am Bahnhof Lichtenberg sowie am Caligari-Platz in Weißensee. Dieses Jahr haben die Mittel nur für die vier Tage in Lichtenberg gereicht.
Straßenmusiker und Weltenbummler
Viele der auftretenden Musiker hat Heesch direkt auf der Straße kennengelernt. Einer von ihnen ist Nelson Aysu, der ursprünglich aus Brasilien stammt. Heesch traf ihn beim Spielen auf der Museumsinsel. Aysu bringt Rockklassiker wie Queen, Jimi Hendrix oder Guns ’n’ Roses auf die Bühne – mit E-Gitarre und viel Leidenschaft. Beim „Hinschauen“-Festival wird er am Samstag spielen.
Straßenmusiker Nelson Aysu spielt beim Festival „Hinschauen“ am Bahnhof Lichtenberg.
© Dominik Lenze
Besonders geprägt haben ihn die Begegnungen mit obdachlosen Zuhörerinnen und Zuhörer: Ein Erlebnis hat er besonders im Kopf: „Als ich am Hauptbahnhof hier in Berlin spielte, gaben mir Obdachlose Geld und boten mir Bier an – obwohl sie selbst kaum etwas haben“, erzählt er.
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Das Problem, dass Menschen keinen Wohnraum finden, könne auch ein Festival nicht lösen, sagt Heesch. Dafür liege die Verantwortung bei der Politik. „Theater, Kunst und Musik allein können die Welt nicht verändern. Aber sie können wie homöopathische Tropfen wirken“, sagt der Theatermacher. Seine Hoffnung ist, dass die Festival-Besucher Menschen ohne Obdach danach vielleicht anders wahrnehmen.