Wer behauptet, Stuttgart sei ein Dorf, hat für 17 Tage recht. Schon in der ersten Nacht ist’s brechend voll auf dem Weindorf. Ein Streifzug.

Gegen 20 Uhr gibt’s auf dem Marktplatz in den Lauben keinen freien Sitzplatz mehr. Dicht an dicht sitzen vergnügte Menschen, stehen in Trauben an den Ständen, stoßen an, lachen laut. Die Rathaustreppe füllt sich mit Gästen, die nicht reserviert haben und sich nun mit einem To-Go-Wein auf den Steinstufen niederlassen. Zwei Straßenmusiker spielen und geben dem zentralen Platz der Stadt, der ohne Straßencafés als trostlos galt und schon viel Kritik einstecken musste, eine mediterrane Note.

Von Zurückhaltung keine Spur

Das Stuttgarter Weindorf ist Treffpunkt, Gastlichkeit, Lifestyle, ein Wiedersehen alter Freunde und zugleich eine Liebeserklärung an Stuttgart. Von Zurückhaltung keine Spur. Wer sich hier umschaut, glaubt kaum, dass Deutschland in einer wirtschaftlich angespannten Zeit steckt. Gefeiert wird, als gäbe es keine Krisenmeldungen, keine Rezessionsängste, keine steigenden Preise. Bisher hat das Fest immer mittwochs begonnen. Erstmals startet es an einem Donnerstag – und gibt gleich in der ersten Nacht Vollgas. Donnerstags ist erst um Mitternacht Schluss (wie auch freitags und samstags).

Weindorf-Gäste sitzen auf der Rathaustreppe, Straßenmusiker spielen dazu. Foto: Uwe Bogne

Gleich zum Start werden die Erwartungen übertroffen. Die hohen Preise? Noch scheinen sie kein Thema zu sein. Bei Michael Wilhelmer etwa gingen die hochwertige Weine besser als die günstigen. „Die Leute haben Sinn für Qualität“, sagt er – und wohl auch das Geld dafür.

Eine Halbliterflasche Wasser kostet in dieser Saison zwischen fünf und 6,90 Euro. Ein stolzer Preis, der dennoch – zumindest in der ersten Nacht – ohne Murren gezahlt wird. Der Sprudel ist ausschließlich vom Sponsor Teinacher. Andere Marken, die vielleicht billiger wären, sind nicht zugelassen. „Die Standgebühren und die Energiekosten sind enorm gestiegen“, hört man von den Wirten unisono. Deshalb müssten die Preiserhöhungen sein.

„Beim New Pop Festival hat das Wasser sieben Euro gekoset“

Mit einem Lächeln gibt ein Gast zu bedenken: „Würden die Wirte Hahnenwasser verkaufen, würde selbst das über fünf Euro kosten.“ Jens Zimmermann, der Vorsitzende des Vereins Pro Stuttgart, berichtet, dass er neulich beim New Pop Festival war: „Da hat das Wasser sieben Euro gekostet.“ Der Sponsor Teinacher sei ganz wichtig, schon allein, weil er das Jahr über die Lauben kostenlos lagert. „Müssten wir dafür Hallen anmieten“, sagt Zimmermann, „würde es kein Weindorf mehr geben.“

Dass die Laubenwirte am Donnerstagabend einen Traumstart hinlegen, verdanken sie nicht zuletzt dem Wetter, das sich seiner Verantwortung wohl bewusst ist. Um Schlag 18.30 Uhr hört der Regen auf, als habe jemand den Schalter umgelegt.

Freie Plätze sind in den Lauben rar (hierin Zullo-Laube). Foto: Uwe Bogen

Im Hof des Alten Schlosses werden die nassen Stühle rasch trocken gewischt. Veranstalter des Weindorfs ist kein städtisches Unternehmen, sondern ein privater Verein – ein Verein, dessen Namen Pro Stuttgart bereits zeigt, um was es geht. „Unsere Mitglieder sind pro Stuttgart eingestellt“, erklärt der Vorsitzende Zimmermann, „unser Verein steht für eine offene Gesellschaft – wir lieben Stuttgart!“

Stuttgart-Love – quer durchs Weindorf zwischen Schillerplatz und Marktplatz spürt man sie diese Liebe n vielen Facetten und in voller Stärke. Auch bei Wirtin Birgit Grupp in der Stadtlaube, die mit 600 in der ersten Nacht ausgebuchten Plätzen zu den Hotspots des Festes gehört. Die Paulaner-Chefin steht die meiste Zeit in der Küche. „Das ist Stress, ja“, sagt sie, „aber er macht großen Spaß.“ Die nächsten 17 Tage werden für sie so aussehen: Um 2 Uhr geht’s ins Bett, Aufstehen um 7 Uhr, erst ins Büro, dann aufs Weindorf, wo sie den Kartoffelsalat selbst macht, wie sie sagt. Birgit Grupp stammt aus einer Gastro-Familie, die Spaß an ihrer Arbeit hat, auch wenn der Stundenlohn umgerechnet ein Witz ist. Auch das ist Liebe für die Stadt und deren Menschen!

Für den Wirt Thomas Diehl ist das Weindorf „das schönste Fest der Stadt“

Ihr Weinpartner Thomas Diehl schwärmt: Das Weindorf sei das „schönste Fest der Stadt“, der junge Weingutchef aus Rotenberg. Man treffe hier so viele Menschen, die man kennt und zum Teil schon lange nicht mehr gesehen habe. Wirtin Sonja Merz sagt, Weintrinker seien angenehme Gäste, da gehe es kultivierter zu, keine „Prost-ihr-Säcke“-Rufe wie auf dem Wasen, auf dem sie sich mit den Biertrinkern freilich auch wohl fühlt. Ihr neuer Standort befindet sich auf dem Marktplatz. Ihre Vorgänger an diesem Stand haben nach 16 Jahren schweren Herzens aufgehört, weil es immer schwerer geworden sei, auf dem Weindorf genügend zu verdienen.

Wo die Promis sind

Sonja Merz muss in diesem Jahr auf ihre Maultaschen in Herzform – der Renner im Vorjahr – verzichten. Die Metzgerei Kübler, die in Handarbeit die Herzen angefertigt hat, ist insolvent. Es fanden sich keine anderen Metzger, die diesen großen Aufwand übernehmen wollten. Bei ihr treffen sich etliche Promis (die frühere Ministerin Susanne Eisenmann, Palast-der-Republik-Chef Stefan Schneider, Clublegende Laura Halding-Hoppenheit, Petra Maria Huber, die Vorsitzende des Stuttgarter Ladys Clubs u.a.) in der ersten Nacht. Aber noch mehr Promis – von Innenminister Thomas Strobl bis zu OB Frank Nopper – sind in der Laube des Ratskellers, der die Feier für die Ehrengäste der Eröffnung ausrichtet.

Lob für das neue Pfandsystem

Die erste Nacht zeigt: Das neue Rückgabe-System mit den einheitlichen Spielbank-Jetons als Pfand funktioniert sehr gut. Nun kann man von Stand zu Stand spazieren gehen, ohne die Ausgabe-Laube wieder aufsuchen zu müssen. „Früher, als es noch Henkel-Gläser gab“, erinnert sich Wirt Michael Schmücker, „gingen die Leute mit nur einem Glas übers Weindorf und haben sich immer wieder anderen Wein einschenken lassen.“ Dies freilich ist heute nicht mehr erlaubt. Für jeden neuen Wein an einem anderen Stand ist ein neues Glas vorgeschrieben, auch wenn man selbst der Konsument ist.

In der Mitte der Tische befinden sich bei der Jägerlaube Eisfächer

Was auffällt: Es sind nicht nur Stammgäste und ältere Jahrgänge, die die Bänke füllen. Viele junge Leute sind da, Gruppen von Freunden, die Selfies machen und das Fest für sich entdecken. Eine Attraktion unweit des Rathauses sind die Tische der neuen Jägerlaube (dahinter steckt die Easy-Street-Bar aus dem Leonhardsviertel), in deren Mitte Vertiefungen eingelassen sind – und die sind mit Eiswürfeln gefüllt. Das Weindorf ist also auch ein Lifestyle-Event. Das Miteinander der jungen Partygänger mit dem traditionsbewussten Publikum verleiht dem Fest seine besondere Lebendigkeit verleiht. Wenn das keine Stuttgart-Liebe ist!