Die Ukraine wankt, aber sie fällt nicht. Der Westen zaudert, aber er bleibt vereint. Putin feiert in Alaska einen Propagandasieg, aber er verfehlt seine Kriegsziele.
Rekruten der ukrainischen Armee während einer Übung im August in der Region Saporischja.
A. Andriyenko / Ukr. 65. mech. Brigade via AP
Wladimir Putin hat den Westen besser verstanden als dieser sich selbst. Der Westen ist vor allem eins: ungeduldig. Das Treffen mit Donald Trump endete ohne Durchbruch, ohne Waffenstillstand, ohne Linderung des ukrainischen Leids. Wie kann das sein? Putin muss den Naivling Trump über den Tisch gezogen haben. Die Medien hyperventilieren, und Putin geniesst. Seine Propagandamaschine verstärkt das Bild des russischen Triumphs.
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Die westliche Ungeduld nützt dem Kreml. Sie trübt den Blick der Öffentlichkeit in einer Situation, in der nervenstarkes Pokern gefragt ist. Putin denkt langfristig und sieht das als einen wesentlichen Vorteil Russlands in dem Kräftemessen.
Tritt man einen Schritt zurück, präsentiert sich die Lage keineswegs so eindeutig. Der Gipfelreigen, der in Anchorage begann und sich in Washington mit Wolodimir Selenski und den Europäern fortsetzte, straft die schlimmsten Befürchtungen Lügen. Trump schloss keinen Deal über die Köpfe der Ukrainer und der EU, und er lässt Kiew auch nicht im Stich.
Auf den Aggressor Putin wartet nur ein Trostpreis
Trump kam Putin vor allem im Atmosphärischen entgegen. Der rote Teppich, die gemeinsame Fahrt in der Präsidentenkarosse, die Schmeicheleien – all das, was die Medien als Beweis des amerikanischen Bücklings vor dem Diktator interpretierten, ist letztlich irrelevant.
Entscheidend ist nur, ob es einen Frieden gibt und zu welchen Bedingungen. Kommt er zustande, ist der Weg dorthin allenfalls für Historiker von Interesse.
Dreieinhalb Jahre dauert der Krieg; für westliche Demokratien eine immens lange Zeit. Die Regierungen in Washington, Berlin und London haben gewechselt, Trump überzieht seine engsten Verbündeten mit einem Zollkrieg. Dennoch hält die Allianz zugunsten der Ukraine. Es ist ein kleines Wunder. Nur weiss das der überkritische und hypernervöse Westen nicht zu schätzen. Er sieht vor allem, was misslingt.
Trump vollführt die für ihn üblichen Kapriolen, aber er hat die Ukraine nicht verraten. Dafür hat Europa eine neue, kräftige Stimme gefunden: Friedrich Merz unterstützt Kiew mit klaren Worten und grosser Entschlossenheit. Der wieselhafte Kurs seines Vorgängers ist Geschichte. Der Strom der Waffen und Geheimdienstinformationen versiegt nicht, nur müssen die Europäer einen grösseren Anteil daran zahlen.
Zugleich ist Putin nicht der diabolisch strahlende Triumphator, als den ihn seine Gegner gerne sehen. Es stimmt, der Tyrann denkt strategischer und langfristiger als die von ihm verachteten Demokratien. Aber der Krieg, der sein Krieg ist, den er begonnen hat und den er allein beenden wird, ist keine Erfolgsgeschichte.
Der ursprüngliche Plan, Kiew einzunehmen und dort eine Marionettenregierung zu installieren, scheiterte rasch. Das Hauptziel der Invasion war, die Europäisierung der Ukraine und jede auch nur indirekte Annäherung an die Nato zu verhindern.
Das Land sollte für immer und ewig zum Satellitenstaat Moskaus herabsinken. Putin hat das Gegenteil bewirkt. Russland wird für die nächsten hundert Jahre der Erbfeind der Ukraine bleiben. Er verleibt zwar seinem Herrschaftsbereich dauerhaft die Krim, den Donbass und den Grossteil der Küste am Asowschen und am Schwarzen Meer ein.
Verglichen mit den ursprünglichen Kriegszielen, ist das aber nur ein Trostpreis. Ihm gelang es nicht einmal, die Ukraine zu einem von der russischen Gnade abhängigen Binnenland zu degradieren. Odessa und damit ein – wenngleich kleines – Stück der für die ukrainischen Getreideexporte überlebenswichtigen Küste bleiben frei.
Man sollte die Macht des Faktischen nicht unterschätzen
Der Traum, das Schwarze Meer in ein Mare Nostrum Moskaus zu verwandeln, ist zerplatzt. Um vor Angriffen sicher zu sein, musste sich die russische Kriegsmarine in demütigender Weise nach Osten zurückziehen.
Die Infanterie hingegen frisst sich westwärts und zerstört alles, was ihr in den Weg gerät. Aber der Vormarsch verläuft quälend langsam. Tiefe Vorstösse sind selten. Als Feldherr ist Putin ein Dilettant. Er beherrscht nur das, was die russische Armee schon immer konnte: Männer und Material verheizen.
Die intensivierten Luftangriffe auf zivile Ziele sind das Eingeständnis der unbefriedigenden Lage am Boden. Der Terror bricht jedoch nicht die Moral. Die Kriegsmüdigkeit wächst zwar, wie Kiews Bürgermeister Witali Klitschko eingesteht. Noch aber wankt die Heimatfront nicht.
Selbst wenn Kiew als Vorbedingung eines Friedens Gebiete räumen muss, lässt sich das verschmerzen. Das bedeutet zwar die Vertreibung von Tausenden von Menschen und einen herben Schlag für den ukrainischen Stolz. Der Aggressor wird belohnt. So ist das in der neuen Weltunordnung, wo sich rohe Gewalt durchsetzt. Freiwillig geht Selenski diesen Weg nicht, aber man sollte die Macht des Faktischen nicht unterschätzen.
Auf das Kasperltheater der deutschen Aussenpolitik ist Verlass
Wichtiger als einige Quadratkilometer Boden sind vier Dinge: Erstens muss das Blutvergiessen, das die Überlebenden physisch und psychisch verkrüppelt und die Gesellschaft zerstört, enden. Zweitens muss die Ukraine ein selbständiger Staat bleiben, der nicht durch einen Knebelvertrag mit Moskau in seiner Handlungsfreiheit beschnitten wird.
Drittens benötigt das Land Sicherheitsgarantien. Die USA und die Europäer schliessen zwar als Konzession an Moskau einen Nato-Beitritt aus. Aber auch die Stationierung westlicher Truppen in der Ukraine oder auf Nato-Gebiet nahe der Grenze kommt in Betracht. Entscheidend ist der politische Wille zum Schutz der Ukraine, und der ist überraschend deutlich – sogar bei dem unsicheren Kantonisten Trump.
Doch noch bevor klar ist, ob überhaupt eine Friedensvereinbarung zustande kommt, streitet die Koalition in Berlin schon, ob sich die Bundeswehr beteiligen darf. Auf das Kasperltheater der deutschen Aussenpolitik ist Verlass. Merz steht hier vor einer Bewährungsprobe. Er muss nach klugen Worten echte Führungsstärke zeigen.
Viertens müssen die Europäer in ihrem wie im ukrainischen Interesse ihre militärische Schlagkraft verbessern, gerade nach einem eventuellen Friedensschluss. Eine glaubwürdige Abschreckung ist auch im neuen kalten Krieg essenziell.
Putin fühlte sich auch deshalb zum Überfall ermutigt, weil er sah, wie schwächlich der Westen agierte: ob im Nahen Osten, ob nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 oder beim schmählichen Abzug der Nato aus Afghanistan. Amerika und Europa gingen den Weg des geringsten Widerstandes, blind für die Folgen ihrer erodierenden Abschreckungsfähigkeit.
Das strategische Denken in Europa sollte sich von der Ukraine emanzipieren
Putin glaubte daher, dem Westen seinen Willen aufzwingen zu können. Wenn er davon nicht mehr ausgehen kann, verändert sich sein Risikokalkül dramatisch. Und das nicht nur in Europa. Sein syrischer Günstling Asad ist gestürzt, der Partner Iran im Luftkrieg besiegt. Der Kreml muss tatenlos zuschauen. Nun ist er es, der zu schwach ist, um in Damaskus oder Teheran einzugreifen. Putin ist ein Scheinriese, der seinen Nimbus vor allem dem Westen und dessen Ängstlichkeit verdankt.
Der Satz, Europa werde in der Ukraine verteidigt, war immer gefährlich. Zu Ende gedacht, bedeutet er, dass Europa schutzlos ist, wenn die Ukraine fällt. Selbstverständlich muss die Nato einen russischen Angriff aus eigener Kraft abwehren können. Um glaubwürdig zu sein, sollte sich das strategische Denken in Europa von der Ukraine emanzipieren. Bei aller Solidarität mit Kiew steht immer die eigene Sicherheit im Zentrum.
Auch aus dieser Perspektive sind territoriale Zugeständnisse zweitrangig, sofern sie eine Ordnung in dem zwischen Orient und Okzident umkämpften Grenzland schaffen. Mehr als eine Atempause ist es ohnehin nicht. Das Gebiet der heutigen Ukraine war stets ein Spielball der Grossmächte, und daran wird sich nichts ändern.
Der Konflikt mit Moskau endet nicht, wenn die Waffen schweigen. Kalte Kriege sind lange Kriege. Putin fühlt sich dafür besser gewappnet, weil er die Ungeduld der Demokratien und ihre Stimmungsschwankungen überschätzt. Er könnte sich täuschen. Der Überfluss an Ressourcen macht den Westen widerstandsfähig. Kommt dann noch Entschlossenheit hinzu, ist das keine schlechte Mischung. Moskau hat 1989 schon einmal den Kürzeren gezogen.
Die Zwischenbilanz des Krieges fällt besser aus als erwartet. Die Ukraine hält durch, Amerika und die Europäer auch. Ob Putin zum Frieden bereit ist, weiss nur er selbst. Von einer Fortsetzung der Kämpfe kann er keine dramatische Wende zu seinen Gunsten erwarten. Er vermag noch lange so weiterzumachen, aber was bringt ihm das? Der grosse Manipulator kann eben doch nicht jedem seinen Willen nach Belieben aufzwingen.