Werden Kinder und Jugendliche ausreichend beachtet und politisch vertreten? Nein, findet Jana-Sophia Ihle, bis kürzlich pädagogische Leiterin in der Alten Feuerwache und seit 1. Juni Leiterin der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisch Land. In der aktuellen Ausgabe der WZ-Podcast-Reihe „Wie ich’s gern hätte“ spricht Ihle mit Redakteurin Katharina Rüth über die Situation von Kindern in der Gesellschaft und wie ihnen besser geholfen werden kann.
Zu Beginn des Gesprächs geht Ihle auf die Rolle und Tätigkeiten der Ärztlichen Kinderschutzambulanz ein. Es handelt sich um eine „sehr spezialisierte Fachstelle“, die sich mit Kindern beschäftigt, „die von physischer und seelischer Gewalt, von schwerer Vernachlässigung und/oder sexuellem Missbrauch betroffen sind“, erklärt Ihle. „In der Regel werden wir von Jugendämtern angefragt, die in bestimmten Fällen nicht weiterwissen oder bei denen es Hinweise auf schwere Gewalt oder Missbrauch an Kindern gibt.“ Die Kinderschutzambulanz steht dabei in enger Zusammenarbeit mit der Sana-Klinik.
Bei den Kindern, um die sich die Ärztliche Kinderschutzambulanz vorwiegend kümmert, handle es sich um „extreme Ausnahmefälle“. Ob Säuglinge oder Jugendliche: „Die Kinder kommen aus allen Milieus“, sagt Ihle. „Bei uns landet wirklich die Spitze, manchmal auch das Unvorstellbare.“
„Was macht das mit Ihnen?“, will Rüth wissen. „Diese Frage wird immer wieder gestellt“, antwortet Ihle. Es gebe ihr Energie, zu wissen, dass sie beitragen kann, Kindern zu helfen. „Die Kinderschutzambulanz wird oft an einer Stelle hinzugezogen, an der sich Kinder an einem ganz wichtigen Punkt in ihrem Leben befinden. Diese Grundhaltung, konsequent im Sinne des Kinderschutzes zu handeln, gibt mir unheimlich viel Motivation. Aber ich will nicht verhehlen, dass wir die Kinder gedanklich mit nach Hause nehmen und manchmal nur schwer begreifen können, was wir für Fälle vorliegen haben.“
Möglich sei die Arbeit auch nur in einem großen Netzwerk mit hoher Fachkompetenz. Ob Psychologen, Neuropädiater, Kinderärzte: „Das hilft uns untereinander, dass wir immer auf Expertise zurückgreifen können. Man kann sich als Team Fälle gemeinsam anschauen, noch einmal aus unterschiedlichen Perspektiven miteinander diskutieren und zu guten und validen Ergebnissen kommen. Das ist wichtig und für die Kinder, die betroffen sind, unersetzlich.“
Ob es immer schlimmer wird und die prekären Situationen für Kinder zunehmen? „Ich finde das gar nicht so leicht zu beantworten“, sagt Ihle. „Man könnte es aus der Perspektive sagen, dass immer mehr Fälle bekannt werden. Das ist zumindest ein Zeichen dafür, dass Fachkräfte qualifizierter und sensibilisierter für diese Themen und Problemlagen sind.“ Gerade im Internet sieht Ihle „irrsinnige Entwicklungen“: Nämlich sogenanntes Cyber-Grooming (in etwa: gezieltes Ansprechen von Kindern im Internet mit sexuellen Absichten, Anm. d. Red.) und Kinderpornografie. „Es ist eine enorme Aufgabe, auch für die Strafverfolgungsbehörden, hier am Ball zu bleiben und dieser Entwicklung nicht nur hinterher zu rennen“, sagt sie.
Einerseits brauche es qualifizierte Fachkräfte mit starken Nerven, die sich damit befassen. Andererseits finanziere man diese Stellen nicht ausreichend, findet Ihle. Gerade für die freien Träger, darunter die Ärztliche Kinderschutzambulanz oder die Alte Feuerwache, sei das Thema Finanzierung ein unglaublich schwieriges. Eine verlässliche strukturelle Finanzierung gebe es nicht. „Auch die Arbeit der Ärztlichen Kinderschutzambulanz ist auf Spenden angewiesen. Sonst können wir die Arbeit, so wie sie sein müsste, nicht machen.“
Über das Thema der Finanzierung kommen Rüth und Ihle auf den Kommunalwahlkampf zu sprechen: Sie merken an, dass Kinder so gut wie keine Rolle spielen, höchstens das Thema Kinderbetreuung „als Mittel zum Zweck“, so Ihle. „Das finde ich auffällig und es ärgert mich auch. Es ist ein gesellschaftliches Thema mit so einer hohen Relevanz – und wir schaffen es bis heute nicht, diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen.“ Es mache immer noch einen „Riesenunterschied“, in welche Familiensituation man hineingeboren wird, „nicht nur für meine seelische Entwicklung oder körperliche Unversehrtheit, sondern auch für meinen Bildungsstand, meinen Werdegang, meine Beziehungsgestaltung“, sagt Ihle. „Das entscheidet – ganz doll zugespitzt – über meine ganze Zukunft.“
Ihle beschreibt es als „Armutszeugnis für eine Gesellschaft eines der reichsten industrialisierten Länder“, dass man es nicht schafft, allen Kindern echte Chancen geben zu können, „sich gesund und glücklich zu entwickeln“.
Zu spätes Eingreifen wird am Ende teurer
„Wenn die Familie als Schutzraum funktioniert, ist das toll. Wenn die Familie selbst aber ein Ort ist, wo Grenzverletzungen passieren, wo die Sicherheit der Kinder höchst gefährdet ist, dann müssen wir als Gesellschaft Angebote machen.“ Das kostet viel Geld, räumt Ihle ein. Doch die Alternative, erst einzugreifen, wenn Jugendliche etwa schon Verhaltensauffälligkeiten entwickelt haben, wäre „oft noch viel teurer“, sagt sie. „Im Sinne der Prävention macht es Sinn, mit verlässlichen, stabilen Angeboten aufzuwarten, um mögliche Krisensituationen in Familien auch früh mitzubekommen. Je früher ich die mitbekomme, desto besser kann ich gezielt eingreifen.“
Auch auf ihre zurückliegende Tätigkeit bei der Alten Feuerwache kommt Ihle zu sprechen. Da ging es nicht nur darum, Kinder mit Bildung, Essen und Kleidung zu versorgen, sondern auch ein stabiles Beziehungsangebot zu schaffen – nicht nur über einige Monate, sondern „über ein gesamtes Entwicklungsfenster hinweg“. „Weit unten in der Bedürfnispyramide stehen das Bedürfnis nach Sicherheit und Beziehung. Kinder, denen das fehlt, entwickeln sich in der Regel hoch problematisch.“ Der Abschied von der Alten Feuerwache, begleitet von zahlreichen Kollegen und Gästen, habe ihr noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig ihre Arbeit ist und welchen Einfluss man auf das Leben anderer haben kann.
„Ich glaube, dass das vielen Menschen in entscheidenden Positionen gar nicht bewusst ist, was da an Defiziten sein kann“, wirft Rüth ein – und Ihle stimmt zu. „Wenn ich mit vielen Menschen aus anderen Bereichen über meine Arbeit spreche, ist die Reaktion oft Unglaube und Entsetzen. Das kann man sich gar nicht vorstellen, dass so etwas in unserer Stadt vorkommt – und zwar gar nicht so selten, wie man vielleicht meint.“
Und dennoch finden Kinder in der breiten politischen Diskussion so gut wie gar nicht statt, merkt Ihle an. Auch der Umgang mit der Jugend während der Corona-Pandemie sei ein „Desaster“ für die Entwicklung vieler Kinder gewesen und habe „in vielen Familien zu hocheskalativen Prozessen geführt“, was sich auch heute noch bemerkbar macht. Um die Lage zu verbessern, wünscht sich Ihle echte Bekenntnisse von der Politik und mehr Verlässlichkeit: „Ich hatte schon oft politische Vertreter zu Gesprächen da und war bestürzt, wie wenig sie teilweise über die Lebensrealitäten wissen – und das, obwohl sie für diese Themen in ihrer Partei zuständig sind. Stadtpolitik darf nicht so isoliert nur im Ratssaal stattfinden, sondern sie muss sich richtig mit den Akteuren vor Ort vernetzen.“ Zwar komme es gerade im Wahlkampf häufiger zu besuchen, doch einen nachhaltigen Effekt hat Ihle noch nicht gesehen.
Ihle erkennt zwar Engagement in der Kommunalpolitik, doch „ich sehe ein Defizit im Bereich Kinderschutz“, sagt sie. „Wir müssen alle daran arbeiten, das Thema aus der Schmuddelecke rauszuholen und in die Mitte der Gesellschaft zu bringen“, so Ihle. „Die Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit den Schwächsten umgeht – und dazu gehören natürlich Kinder.“