Obwohl sich der Kreml bislang eher ausweichend zu einem möglichen Gipfeltreffen zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und Russlands Staatschef Wladimir Putin geäußert hat, wird bereits über Austragungsorte spekuliert. Die Suche nach einem geeigneten Schauplatz gestaltet sich allerdings schwierig – nicht zuletzt wegen des Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) gegen Putin.
Der verpflichtet die Vertragsstaaten des Gerichts, den russischen Präsidenten im Falle einer Einreise festzunehmen und nach Den Haag auszuliefern. Auch die Schweiz und Österreich zählen zu diesen Staaten. Dennoch haben beide Länder zuletzt signalisiert, Putin die Teilnahme an einem Friedensgespräch zu ermöglichen. Tatsächlich sind mehrere Wege denkbar, wie ein solches Treffen ohne Verstoß gegen das Völkerrecht stattfinden könnte.
Die Rolle des Sicherheitsrats
Ein Weg führt über Artikel 16 des Römischen Statuts, dem Gründungsvertrag des IStGH. Danach kann der UN-Sicherheitsrat per Resolution anordnen, dass der IStGH seine Ermittlungen im Fall Putin für einen Zeitraum von bis zu zwölf Monaten aussetzt. In dieser Zeit dürfte der Gerichtshof kein Auslieferungsgesuch stellen.
Ob dieser Weg politisch durchsetzbar ist, erscheint jedoch fraglich. Ein solcher Beschluss würde implizieren, dass der Sicherheitsrat die Zuständigkeit des IStGH auch für Staaten wie Russland anerkennt, die dem Gerichtshof nicht beigetreten sind – das lehnen vor allem die Vereinigten Staaten ab.
Könnte man Putin Immunität gewähren?
Eine andere Möglichkeit mit Blick auf den Austragungsort Schweiz ergibt sich aus einem Immunitätsabkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1946. Danach genießen staatliche Delegationsmitglieder, die an einer UN-Konferenz teilnehmen, für die Dauer ihres Aufenthalts Immunität.
Da sich in Genf der europäische Hauptsitz der Vereinten Nationen befindet, könnte bei einem Friedenstreffen im Rahmen einer dortigen UN-Konferenz diese völkerrechtliche Vereinbarung greifen. In eine ähnliche Richtung gehen die Signale aus Österreich, das mit Wien ebenfalls über einen zentralen UN-Sitz verfügt.
Der Kölner Völkerrechtsprofessor Claus Kreß warnt im Gespräch mit der F.A.Z. allerdings vor rechtlichen Unwägbarkeiten: Als das Abkommen verabschiedet wurde, existierte der IStGH noch nicht – der nahm seine Arbeit erst 2002 auf. Die Möglichkeit eines IStGH-Haftbefehls gegen ein Staatsoberhaupt sei damals nicht mitbedacht worden. Dies lasse Zweifel an der Anwendbarkeit der Immunitätsregelung aufkommen.
Absprache mit dem IStGH treffen
Kreß plädiert daher für einen anderen Weg: Sein Ansatz beruht auf der Tatsache, dass für IStGH-Mitgliedstaaten erst dann eine Pflicht zur Auslieferung besteht, wenn der Gerichtshof ein entsprechendes Ersuchen stellt. Laut Römischem Statut sei der IStGH dazu aber nicht kategorisch verpflichtet. Dies eröffne für den besonderen Fall von Friedensverhandlungen Raum für diplomatische Lösungen.
Ein Mitgliedstaat könnte den Gerichtshof vorab konsultieren und vereinbaren, dass für das Treffen zwischen Putin und Selenskyj ausnahmsweise kein Ersuchen gestellt oder die Wirkung eines bereits übermittelten Ersuchens suspendiert wird. „Das wäre die rechtlich einfachste und beste Lösung“, sagte Kreß der F.A.Z.
„Vertrag zulasten Dritter“
Einzelne Juristen wie Matthias Friehe weisen auf eine weitere Möglichkeit hin. Der Wiesbadener Staatsrechtler stellt bereits die Grundannahme infrage, dass die Mitgliedstaaten des IStGH verpflichtet seien, Putin aufgrund des Haftbefehls festzunehmen und auszuliefern. Denn Russland sei kein Vertragsstaat des IStGH. Eine Vereinbarung, die die Auslieferung amtierender Staatsoberhäupter von Nicht-Mitgliedsstaaten zum Gegenstand habe, bezeichnet er als unzulässigen „Vertrag zulasten Dritter“.
Ähnlich hatte er sich bereits im vergangenen Jahr in einem Gastbeitrag in der F.A.Z. geäußert – damals mit Blick auf die Frage, ob Deutschland den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu im Falle eines Besuchs ausliefern müsste. Auch gegen Netanjahu liegt ein Haftbefehl aus Den Haag vor, auch Israel hat sich nicht dem Vertragsstatut des IStGH unterworfen. Der Grundgedanke ist laut Friehe derselbe: „Bisher gibt es kein allgemeines Völkergewohnheitsrecht, wonach Staaten den Regierungschef eines Nicht-Mitgliedstaates ausliefern dürften.“ Dafür fehlten Beispiele aus der bisherigen Staatenpraxis, so Friehe im Gespräch mit der F.A.Z.
Ungarn als Austragungsort
Neben Österreich und der Schweiz wird insbesondere Ungarn als möglicher Austragungsort für das Gipfeltreffen diskutiert. Zwar hat die ungarische Regierung in diesem Jahr ihren Austritt aus dem Römischen Statut erklärt. Völkerrechtlich wird dieser Rückzug aber erst ein Jahr nach der offiziellen Mitteilung wirksam – im Fall Ungarns wäre das Mitte 2026. Bis dahin bleibt das Land theoretisch verpflichtet, mit dem IStGH zu kooperieren.
Praktisch ist von einer Umsetzung dieser Pflicht allerdings nicht auszugehen: Ungarische Regierungsvertreter haben wiederholt erklärt, die Autorität des IStGH nicht anzuerkennen. Dass dies keine leeren Worte sind, zeigte sich im April, als Netanjahu trotz Haftbefehls ungarischen Boden betreten konnte, ohne festgenommen zu werden.
Putin meidet IStGH-Vertragsstaaten
Aus Sicht des Kremls dürfte der sicherste Weg gleichwohl darin bestehen, nur solche Staaten als Austragungsort zu akzeptieren, die dem Römischen Statut nicht angehören. Dazu zählt etwa die Türkei, die ebenfalls als Schauplatz für das Gipfeltreffen gehandelt wird. Seit Erlass des Haftbefehls hat Präsident Putin Reisen in Mitgliedstaaten des IStGH weitgehend gemieden.
Eine Ausnahme stellte sein Besuch in der Mongolei im September vergangenen Jahres dar – trotz Haftbefehls kam es damals zu keiner Festnahme. Da der Gerichtshof keine eigene Exekutivgewalt besitzt und auf die Kooperation seiner Mitglieder angewiesen ist, konnte er damals nicht einschreiten.
Der Fall führte einmal mehr vor Augen, dass die Durchsetzungskraft des IStGH maßgeblich vom politischen Willen seiner Vertragsstaaten abhängt. Damit wird Putins faktischer Reiseradius nicht durch das Völkerrecht allein begrenzt, sondern auch durch die Bereitschaft einzelner Staaten, sich diesem Recht in der Praxis verpflichtet zu fühlen – oder es zu ignorieren.