Zwanzig Jahre lang hat Gustavo (Esteban Bigliardi) mit täglicher Yogapraxis Versenkung geübt. Das Ziel der freudigen inneren Ruhe, Samadhi, entfernt sich im Moment allerdings immer weiter. Denn statt der Erleuchtung begegnet Gustavo gerade das Schicksal mit chronischem Pech und schlimmen Zufällen, vielleicht ist es Vorsehung. Asiatische Weisheitslehre konkurriert hier bald mehr und mehr mit abendländischer Philosophie. Yoga reibt sich mit Stoa, Philosophien der Geschehensharmonie mit christlich ikonographischen Narrenvorstellungen. Am armen Gustavo wird das alles ausgetragen. Statt Atlasfigur zu sein, kann und will er bloß zuschauen in diesem gleichermaßen bezaubernden, entrückenden wie sehr witzigen argentinischen Film, den Arte im Original mit deutschen Untertiteln zeigt.
Nachdem Gustavo zu Beginn der Ereignisse seiner deutschen Schülerin Steffi (Celine Wempe) mit sanften Worten nahelegt hat, sich wegen ihrer Avancen ein anderes Yogastudio zu suchen, bebt die Erde in Santiago de Chile. Geordnet und im Gleichgewicht verlassen die Schüler angeleitet von ihrem Lehrer Gustavo das Studio und warten draußen auf das Ende der hier nicht seltenen Naturkatastrophe. Die Erdkruste ist aus den Fugen, aber nicht Gustavos Weltbegegnungsweise.
Seine Komik ist die des traurigen Clowns
Dieses Erdbeben in Chile, erfahren wir, ist nicht der Anfang von Gustavos Erschütterungen, bloß ihr deutlichster Ausdruck und der Anfang des überaus komischen Films „La Práctica“ von Martín Rejtman. Komisch ist freilich ein Etikett und nur eine der Perspektiven, aus der man diesen bilder- und erzählungsüberbordenden Film ansehen kann (Kamera Hugo Azevedo). Man kann ihn entmutigend finden oder ziemlich ermutigend, pessimistisch-tragisch oder glücksbringend-erhellend. Seine Komik ist die des traurigen Clowns, der dauernd auf Schmierseife oder Bananenschalen ausrutscht, mithin unablässig vom Pech verfolgt wird. Mit Yoga hat dies freilich nichts zu tun. Dass allen anderen ihre Pläne und Leben zu gelingen scheinen, dass sie ihn mit Wünschen bedrängen, übervorteilen, übergehen und ausnutzen, zeigt Rejtman in immer neuen filmischen Arabesken.
Gustavos Ehefrau Vanesa (Manuela Oyarzún), ebenfalls Yogalehrerin, aber mit lebenspraktischerem Bezug, hat sich getrennt und die Wohnung behalten, bietet die gemeinsamen Möbel zum Verkauf an und fordert Geld. Gustavos aufdringliche Mutter (Mirta Busnelli) wirkt wie ein Vanesa-Zwilling und behandelt ihn, als sei er ein Kleinkind. Abgesehen davon, dass sie ständig verlangt, er solle nach Buenos Aires zurückkommen, zu ihr. Tatsächlich zieht der Mann erst zum Bruder von Vanesa, wo beständig geraucht und mit Knoblauch gekocht wird, was für einen Yogapraktizierenden an Körperverletzung grenzt, dann findet er ein Zimmer, soll aber bald Airbnb-Touristen weichen. Beim Yogaretreat in den Bergen verletzt er sich am Knie, der Körper streikt. Nun sollen es Schmerzmittel richten statt Samadhi, worauf sich Gustavo gleich noch das andere Bein verletzt und nun einen Gips trägt, bevor er im Fitnessstudio unter lauter Muskelmenschen Kraftübungen an Geräten machen muss.
Zur Apothekerin Laura (Camila Hirane) zarte Bande zu knüpfen bleibt ihm verwehrt, weil diese sich mit Matías (Giordano Rossi) zusammentut, seinem Probeschüler, der im Yogastudio zuvor zahlreiche Handys geklaut hat. Während die anderen munter Partner-wechsle-dich spielen, Lauras Ex Alberto (Victor Montero) sich mit Vanesa anfreundet, die mit Rodrigo (Gabriel Canas) vorübergehend einen verhaltensauffälligen Mann an ihre Seite gezogen hat, schaut Gustavo von der Seitenlinie zu, lauscht ergeben den Enttäuschungen der Retreat-Leiterin Amanda (Amparo Noguera) und erfährt Zuspruch bloß von der parteiischen Paartherapeutin (Catalina Saavedra), die Gustavos Wehrlosigkeit zu überwinden sucht.
Nicht zuletzt wirkt „La Práctica“ bei alldem wie das bis ins Kleinste bedachte Gegenstück zu Filmen in „Ein-Mann-sieht-Rot“- und „Rambo“-Manier. Irgendwann verschwindet Gustavo sogar vom Angesicht der Erde, und es kann gut sein, dass Rejtman mit diesem Film nicht nur seinen Yogi, sondern uns und gleich die ganze die westliche Yogabegeisterung zum Narren hält.
La Práctica läuft am Donnerstag um 23.25 Uhr bei Arte und von diesem Tag an bis zum 31. Oktober in der Arte-Mediathek.