Die Führung in Kiew traut dem Gerede vom baldigen Frieden nicht. Sie präsentiert eine neue Waffe mit einer Reichweite bis hinter den Ural – sie soll Russland künftig wirksam abschrecken.
Die Ukraine hat vor einigen Tagen erstmals Einblick in eine Fabrik gegeben, die Marschflugkörper des neuen Typs Flamingo herstellt.
Efrem Lukatsky / AP
Eine Woche nach dem Gipfeltreffen der Präsidenten Trump und Putin lässt sich eine wachsende Blockade in der Ukraine-Diplomatie konstatieren. Das liegt primär an Russland: Es hat den amerikanischen Wunsch nach einer baldigen Begegnung Putins mit dem ukrainischen Präsidenten Selenski klar abgelehnt. Aussenminister Lawrow unterstrich dies am Freitag mit der Bemerkung, dass die Agenda für ein solches Treffen noch überhaupt nicht bereit sei. Bereits zuvor hatte er bekräftigt, dass Moskau keine westlichen Truppen auf ukrainischem Boden dulden werde. Damit schwebt über den europäischen Planungen für eine Ukraine-Friedenstruppe ein grosses Fragezeichen.
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Während Trumps Vermittlungsdiplomatie abgebremst wird, tobt der Krieg unvermindert weiter. An der Front im Donbass hat er ohnehin nie nachgelassen, aber in den letzten Tagen haben sowohl Russland als auch die Ukraine wieder ihre Luftangriffe intensiviert. Wie ein Signal an Washington wirkte, dass Moskau am Donnerstag eine in amerikanischem Besitz stehende Fabrik für Elektronikteile in der Westukraine angriff. Der russische Marschflugkörper löste einen Grossbrand aus und verletzte 15 Angestellte.
Russisches Benzin wird knapper
Aber auch die Ukraine hält sich mit Schlägen gegen russische Industrieanlagen nicht zurück. Am selben Tag griff sie mit Langstrecken-Drohnen die Erdölraffinerie von Nowoschachtinsk in Südrussland an; das dadurch verursachte Feuer wütete auch noch am Freitag. Einen weiteren Brand lösten ukrainische Drohnen in Westrussland an der internationalen Erdölpipeline Druschba aus – bereits zum dritten Mal in kurzer Zeit. Diese Rohrleitung war zur Sowjetzeit gebaut worden, um Öl bis nach Deutschland zu liefern. Heute versorgen sich in der EU nur noch Ungarn und die Slowakei über die Druschba. Es wird ein Betriebsunterbruch von mehreren Tagen erwartet.
Ein vom ukrainischen Militär verbreitetes Bild vom Donnerstag zeigt den Brand im Pumpwerk von Unetscha, wo die Druschba-Pipeline verläuft.
Magyarbirds/UGC
Seit Anfang August hat die Ukraine sieben Anlagen des russischen Erdölsektors attackiert, mindestens vier Raffinerien mussten ihre Produktion drosseln oder vorläufig ganz einstellen. Nach Schätzungen ist davon etwa ein Achtel der russischen Verarbeitungskapazität betroffen. Als Folge davon sind die Benzinpreise so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Aus mehreren Regionen wurden gar Engpässe gemeldet.
In der Vergangenheit haben solche ukrainischen Angriffe auf den russischen Erdölsektor Stirnrunzeln in Washington ausgelöst, weil sie auch die Preise auf dem Weltmarkt hochtreiben könnten. Aber letztlich versucht die Militärführung in Kiew den Gegner einfach dort zu treffen, wo es ihn am meisten schmerzt. Das Kalkül hinter diesen Operationen lautet, dass weniger Erdöleinnahmen in die Kriegskasse des Kremls fliessen sollen und die russische Bevölkerung die Folgen von Putins aggressiver Politik im Alltag stärker spüren muss.
Kiew handelt zudem genau nach einer Überlegung, die am Donnerstag überraschend auch der amerikanische Präsident formuliert hat. In einem Beitrag auf seinem Kurznachrichtendienst Truth Social schrieb Trump, dass es sehr schwer, wenn nicht gar unmöglich sei, einen Krieg zu gewinnen, ohne das Land der Invasoren anzugreifen. Zu Unrecht habe man der Ukraine früher nur erlaubt, sich zu verteidigen, aber nicht in die Offensive zu gehen.
Trump nutzte dies für einen verbalen Hieb gegen seinen Vorgänger Biden. Er verheimlichte zugleich, dass er selber gegen die Lieferung von Offensivwaffen an die Ukraine argumentiert hatte. Als Biden im Dezember der Ukraine erstmals erlaubte, weitreichende amerikanische Raketen des Typs Atacms gegen Ziele im russischen Hinterland einzusetzen, sprach Trump von einem Akt der Dummheit. Nun klingt er völlig anders. Aber dies muss weder von Dauer sein, noch bedeutet es eine Bereitschaft, den Stopp der Lieferung solcher Waffen an die Ukraine aufzuheben.
Die Ukraine kurbelt die eigene Rüstungsproduktion an
Die Ukraine ist sich bewusst, dass Trump kein verlässlicher Partner ist und er von einer Minute zur nächsten seinen Zorn wieder gegen Kiew richten kann. Ungeachtet des Geredes über mögliche westliche Sicherheitsgarantien für die Zeit nach einem Friedensschluss hat die Ukraine längst erkannt, dass sie selber die Hauptgarantin ihrer Sicherheit sein muss. Entsprechend investiert sie massiv in den Aufbau ihrer Rüstungsindustrie. Mehr als vierzig Prozent der an der Front eingesetzten Waffen stammen laut ukrainischen Angaben inzwischen aus heimischer Produktion. Bei den Langstreckendrohnen beträgt der Anteil nahezu hundert Prozent.
Vor diesem Hintergrund hat die Ukraine in den vergangenen Tagen mit der Präsentation einer neuen, weit reichenden Waffe für Aufsehen gesorgt. Es handelt sich um einen Marschflugkörper namens Flamingo, der bis zu 3000 Kilometer weit fliegen soll, also bis nach Westsibirien. Er ist angeblich mit einem Gefechtskopf von gut einer Tonne bestückt. Eine solche Waffe wäre, falls sie sich im Einsatz bewährt und in grosser Stückzahl hergestellt werden kann, für die Ukraine von unschätzbarem Wert. Denn Marschflugkörper fliegen um ein Mehrfaches schneller als Drohnen und können wesentlich mehr Sprengstoff mit sich tragen. Damit lassen sich Ziele im russischen Hinterland viel wirksamer bekämpfen.
Aufnahmen von Testflügen des neuen Marschflugkörpers FP-5 Flamingo
Fire Point
2500 Flamingos pro Jahr?
Bisher verfügt die Ukraine nur über Marschflugkörper des britisch-französischen Typs Storm Shadow / Scalp, doch die entsprechenden Vorräte scheinen weitgehend aufgebraucht zu sein. Die USA haben bei dieser Waffengattung stets jede Hilfeleistung abgelehnt. Ihre bewährten Tomahawk-Marschflugkörper sind punkto Geschwindigkeit, Sprengkraft und Reichweite mit den ukrainischen Flamingos vergleichbar, aber vorerst bleibt abzuwarten, ob die ukrainische Neuentwicklung hält, was die Behörden versprechen. Die vom Hersteller angekündigte Produktion von täglich sieben Stück ab Oktober – mehr als 2500 pro Jahr – wird vom Militärexperten Fabian Hoffmann als höchst ambitioniert bezeichnet. Ein Nadelöhr werde die Fertigung der Mantelstromtriebwerke sein, sagt der an der Universität Oslo forschende Militärtechnologie-Fachmann auf Anfrage.
Aus Äusserungen von Präsident Selenski geht hervor, dass die Ukraine die Flamingos erst einsetzen will, wenn sie genügend Vorräte hat und ganze «Schwärme» aufs Mal losschicken kann. Diese Taktik dürfte notwendig sein, um die russische Luftverteidigung zu überwinden. Russland war mit der Zeit recht erfolgreich darin, die britisch-französischen Storm Shadows abzufangen. Nach dreieinhalb Jahren Krieg weist die russische Flugabwehr aber Lücken auf, nicht zuletzt wegen des grossen Territoriums. Laut Hoffmann wird der Erfolg der neuen Marschflugkörper davon abhängen, wie gut die Ukrainer die gegnerische Abwehr kennen und inwieweit sie diese mit «Sättigungsangriffen» überwältigen können.
Filmaufnahmen aus der Flamingo-Produktionshalle.
AP