Angesichts hoher Strompreise und des Wunsches nach Dekarbonisierung entdecken viele EU-Staaten die Kernenergie neu. Doch die Kraftwerkprojekte kommen zäh voran. Ein Land allerdings ist die Ausnahme.

Im französischen Ort Flamanville ist im Dezember 2024 Europas neuester Atomreaktor in Betrieb gegangen. Im französischen Ort Flamanville ist im Dezember 2024 Europas neuester Atomreaktor in Betrieb gegangen.

Nathan Laine / Bloomberg / Getty

Günstige Energie, und zwar rasch – das fordert Europas Industrie von den Regierungen. Andernfalls sei man gezwungen, dort zu investieren, wo Elektrizität günstiger sei als in Europa. Zum Beispiel in den USA.

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Die Drohung hat viele Regierungen aufgeschreckt. Zumindest teilweise soll die Nuklearenergie das Problem lösen. «Verhinderer haben die Chancen auf günstigere Energie, Wachstum und Jobs zu lange abgewürgt», sagte der britische Premierminister Keir Starmer diesen Sommer.

Viele europäische Regierungen sehen es gleich. Der fast vollständige Wegfall russischen Gases hat die Energiepreise in die Höhe getrieben. Aber auch die befürchtete «Stromlücke» sollen Atomkraftwerke abwenden – und nicht zuletzt die CO2-Bilanz aufbessern.

In Europa gebe es gerade einen grossen «politischen Appetit» auf Atomstrom, sagt Jean-Paul Harreman von Montel Analytics, einem Anbieter von Energieanalysen.

Osteuropa leidet unter der Altlast Kohle

Am grössten ist dieser Appetit in Osteuropa. Die Länder der Region haben sich jahrzehntelang auf Kohle verlassen. In Polen stammten 2024 immer noch 54 Prozent der Elektrizität von diesem Energieträger, in Tschechien waren es 37 Prozent. Aber Kohle ist für die Staaten zu einer Altlast geworden.

Die EU will mit dem Programm «Fit for 55» erreichen, dass die Mitgliedsstaaten den Ausstoss von Treibhausgasen bis 2030 stark reduzieren. Bis 2050 strebt sie gar die Klimaneutralität an. Der hohe Anteil der Kohle bei der Stromversorgung macht es für die osteuropäischen Staaten aber schwierig, ihre Energiepolitik mit der Klimastrategie der EU in Einklang zu bringen.

Für Länder wie Polen und Tschechien sei Atomkraft sinnvoll, sagt Harreman von Montel Analytics. Der Schlüsselbegriff ist aus seiner Sicht die «Grundlastenergie», also jener Strom, der rund um die Uhr täglich verbraucht wird. Kohlekraftwerke hätten diesen jahrzehntelang zuverlässig geliefert, nun müssten Nuklearanlagen diese Rolle übernehmen.

In Polen gibt es allerdings noch kein einziges AKW. Ein Projekt scheiterte in den 1980er Jahren. Jetzt treibt die Regierung ein neues Vorhaben voran. Polens erstes Kernkraftwerk soll an der Ostsee in der Nähe von Danzig (Gdansk) entstehen.

Die Regierung hat im Frühjahr mit den amerikanischen Firmen Westinghouse und Bechtel einen Vertrag unterschrieben. «Die Kooperation mit den USA auf dem Gebiet der Energieversorgung nimmt Fahrt auf», sagte Polens Ministerpräsident Donald Tusk Ende April.

Schwierige Finanzierung neuer Anlagen

Die Finanzierung der Anlage stellt für Polen allerdings eine Herausforderung dar. Das Projekt soll rund 50 Milliarden Euro kosten, rund ein Drittel davon will der Staat beisteuern. Woher der Rest des Kapitals kommen soll und welches die Betriebsgesellschaft sein wird, weiss Polen noch nicht. Die Rede ist von Bankkrediten, für die der Staat garantiert. Die geplante Inbetriebnahme ist schon mehrmals verschoben worden, nun soll es 2036 so weit sein.

Der Bau eines Atomkraftwerks ist ein hürdenreiches Unterfangen, selbst in den osteuropäischen Staaten, die auf solche Anlagen angewiesen sind. Das erfährt gerade auch Tschechien. Die Regierung will zwei Atomkraftwerke bauen lassen und hat dafür mit dem südkoreanischen Unternehmen KHNP einen Vertrag geschlossen.

Der im Verfahren unterlegene französische Anbieter EdF hat jedoch Einspruch erhoben, und im Mai meldete auch die EU-Kommission Einwände an. Sie hat den Verdacht, dass KHNP von Seoul Subventionen erhält, was den Wettbewerb verzerrt. Das steht in einem Brief des EU-Kommissars Stéphane Séjourné an den tschechischen Industrieminister.

In Tschechien hat das Einschreiten der Kommission wütende Proteste ausgelöst. Politiker und Energiemanager verdächtigen Séjourné, sich insgeheim für EdF einzusetzen. Die Kommission weist diesen Vorwurf zurück.

Seit 2023 wird in Deutschland zurückgebaut

Während die Osteuropäer den Bau neuer AKW in die Wege leiten, ist Deutschland mit dem Atomausstieg beschäftigt. Die letzten drei AKW wurden am 15. April 2023 abgeschaltet. Die vor allem mit Sicherheitsbedenken begründete Abkehr von der Atomkraft war 2002 erstmals beschlossen und danach wiederholt modifiziert worden.

Nach dem Reaktorunfall in Fukushima nahm die damalige schwarz-gelbe Regierung acht AKW-Reaktorblöcke sogleich ausser Betrieb, für die übrigen beschloss das Parlament eine stufenweise Abschaltung bis Ende 2022. Im Herbst 2022 erstreckte die Ampelkoalition in Reaktion auf die Energiekrise den Betrieb der letzten drei noch aktiven AKW um dreieinhalb Monate. Den grössten Beitrag zur Stromerzeugung leisteten die deutschen AKW um die Jahrtausendwende mit einem Anteil von rund 30 Prozent.

Bis heute gibt es Stimmen, die den Ausstieg für verfehlt halten. Dieses Lager argumentiert, dass Kernenergie als kohlenstoffarme Energie die erneuerbaren Energien ergänzen sollte, zumal das Energieangebot aus Wind und Sonne stark schwankt. Die deutsche Energiewende setzt dagegen darauf, für diesen Ausgleich, zu dem derzeit auch noch Kohlekraftwerke beitragen, zunehmend Erdgas und später «grünen» Wasserstoff zu nutzen.

In der Bevölkerung ist die Akzeptanz der Kernenergie in letzter Zeit wieder gestiegen, laut manchen Umfragen befürwortet sogar eine Mehrheit einen Wiedereinstieg. Gleichwohl zeichnet sich keine ausreichende politische Unterstützung für eine erneute Kehrtwende ab.

Zwar erklärten die konservativen Unionsparteien CDU und CSU in ihrem Wahlprogramm für die Bundestagswahl im Februar, ein Wiederanfahren der zuletzt abgeschalteten AKW prüfen zu wollen. Doch im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-roten Regierung ist davon nichts mehr zu finden.

Die Energiefirmen sind wenig enthusiastisch

Derweil hat die Energiewirtschaft mit der Kernkraft abgeschlossen, wie Anfragen bei den letzten drei AKW-Betreibern nahelegen. Der Weiterbetrieb von Isar 2 in Bayern sei kein Thema mehr, zumal das Kraftwerk praktisch nicht mehr reaktivierbar sei, erklärt eine Sprecherin der E.On-Tochter Preussen Elektra. Wichtige Komponenten des primären Kühlkreislaufs sind inzwischen vom Reaktordruckbehälter getrennt und demontiert worden.

Ähnlich äussert sich eine Sprecherin des Energiekonzerns EnBW, der zuletzt noch Block II des AKW Neckarwestheim in Baden-Württemberg betrieb. Der Rückbau sei «praktisch gesehen irreversibel», lautet ihr Fazit. Der Energiekonzern RWE, der sein letztes AKW im niedersächsischen Emsland hatte, verweist auf die gesetzliche Regelung, die zum Rückbau verpflichte. Eine Änderung des Atomgesetzes sei im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen. Man gehe davon aus, dass das so bleibe.

Auch an einem Neubau im Falle einer entsprechenden Änderung der Rechtslage zeigen die Unternehmen kaum Interesse. «Das Kapitel ist für E.On abgeschlossen – Kernenergie ist seit vielen Jahren kein strategisches Geschäftsfeld der E.On mehr», heisst es bei Preussen Elektra.

Weshalb das so ist, zeigen allein schon die Fristen: Für Planung und Bau einer neuen Anlage wäre mehr als ein Jahrzehnt zu veranschlagen, selbst bei einer schnellstmöglichen Umsetzung, sagt die EnBW-Sprecherin. Man glaube nicht, dass der Neubau von Kernkraftwerken eine Lösung für die Probleme der Energieversorgung in Deutschland wäre.

Auch in anderen Ländern zeigen Energieunternehmen wenig Enthusiasmus, sich langfristig im Nuklearbereich zu engagieren. In Belgien hat die Gesellschaft Engie der Regierung zwar zähneknirschend zugesagt, die Laufzeit von zwei Reaktorblöcken um zehn Jahre bis 2035 zu verlängern. Laut eigenen Aussagen nimmt man dafür hohe Ausgaben auf sich.

Doch die Regierung will mehr: eine Verlängerung über 2035 hinaus und die Prüfung, ob man die Werke, die derzeit stillgelegt werden, wieder in Betrieb nehmen könnte. Das allerdings widerspricht der Geschäftsstrategie von Engie. Eine Laufzeit über 2035 hinaus sei undenkbar, betonte jüngst der Chef von Engie Belgien. Wenn der Staat das wolle, dann müsse er die Werke selber betreiben.

Auch in den Niederlanden will die Regierung die Atomkraft wiederbeleben, kommt damit jedoch nicht voran. In dem Land gibt es bloss ein Atomkraftwerk. Die Regierung spielte allerdings mit dem Gedanken, vier neue Anlagen zu bauen.

Aber es scheint, dass sie sich mit dem Vorhaben übernommen hat. Es sei unrealistisch, dass bis 2035 auch nur eine einzige Anlage stehe, teilte die Klimaministerin Sophie Hermans dem Parlament im Frühjahr mit. Der Zeitrahmen sei viel zu ehrgeizig für ein solch grosses und komplexes Projekt mit Folgen für die Natur und die Gesellschaft.

Der Experte Harreman rät ohnehin davon ab, überstürzt in Atomkraft zu investieren. Zusätzlicher Nuklearstrom verschärfe das Problem, dass in Phasen mit viel Sonnenschein und starkem Wind zu viel Elektrizität auf dem Markt sei. Das entwerte die Anlagen für erneuerbaren Strom und dränge Energieanbieter wie Gaskraftwerke, welche die Nachfrage- und Angebotsschwankungen ausgleichen, aus dem Markt. «Atomstrom ist sinnvoll als Teil des Strommixes, aber er ist nicht die alleinige Lösung des Energieproblems», sagt Harreman.

Ein «grosser Moment» für Frankreich

Trotz aller Skepsis und allen Bedenken, es gibt ein Land in Europa, das unbeirrt den Ausbau der Atomkraft vorantreibt: Frankreich. Erst Ende Dezember 2024 wurde nahe Flamanville, einem Dorf an der Ärmelkanalküste, der 57. Atomreaktor des Landes feierlich ans Stromnetz angeschlossen.

Flamanville 3 ging nach 17 Jahren Bauzeit in Betrieb, 12 Jahre länger als geplant. Zudem hatten sich die Kosten von ursprünglich 3,3 Milliarden Euro auf mehr als 19 Milliarden Euro vervielfacht, wie der französische Rechnungshof im vergangenen Jahr schätzte. Dennoch sprach Präsident Emmanuel Macron stolz von einem grossen Moment für Frankreich.

Bei dem Meiler handelt es sich um einen EPR, einen Druckwasserreaktor der neuesten Generation. Er zählt mit 1650 Megawatt zu den leistungsstärksten Reaktoren weltweit und soll rund 2 Millionen Haushalte mit Strom versorgen können.

Für Macron ist Flamanville 3 aber nur der erste Schritt. Sechs weitere EPR sind in Planung, acht weitere sind als Option vorgesehen. Rund 100 Milliarden Euro nimmt der Staat dafür in die Hand. Parallel dazu entwickelt der staatliche Energiekonzern EdF einen eigenen sogenannten Small Modular Reactor, der eine kompaktere, kostengünstigere Variante darstellt, die sich schneller bauen und flexibel einsetzen lässt.

In Frankreich bestimmt der Staat

Damit macht Frankreich, das einzige EU-Mitgliedsland mit eigenen Nuklearwaffen, deutlich, wohin seine Reise geht: Kernenergie soll auch in Zukunft das Rückgrat der französischen Energieversorgung bilden. Schon heute stammen rund 70 Prozent des Stroms aus Atomkraftwerken, und dieser hohe Anteil soll erhalten bleiben.

Die Atompolitik liegt fast vollständig in staatlicher Hand. Der Energiekonzern EdF, zu 100 Prozent in Staatsbesitz, verantwortet Bau und Betrieb der Reaktoren. Die Technologie stammt vom Reaktorhersteller Framatome, der mehrheitlich im Besitz von EdF ist.

Die Grundlagenforschung koordiniert das staatliche Commissariat à l’énergie atomique. Damit unterscheidet sich Frankreich deutlich von Ländern wie Grossbritannien oder den USA, wo private Konsortien den Ausbau tragen.

Neue Atomkraftwerke entstehen in Frankreich bevorzugt an bestehenden Standorten wie Flamanville, wo die Infrastruktur und die gesellschaftliche Akzeptanz gegeben sind.

Die Bevölkerung steht der Kernenergie im europäischen Vergleich sehr positiv gegenüber: Laut dem Eurobarometer von Oktober 2024 glauben 66 Prozent der Franzosen, dass Atomkraft positiv sei für die Energieversorgung. Und nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP vom September 2022 liegt die Zustimmung zum Bau neuer Reaktoren bei 65 Prozent. Nur 6 Prozent der Bevölkerung sind komplett gegen Nuklearenergie.

Überhaupt ist die Anti-AKW-Bewegung in Frankreich traditionell schwach. Atomkraft wird hier stark mit nationaler Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Stärke assoziiert. Viele Regionen profitieren zudem direkt davon durch Arbeitsplätze und den Bau neuer Infrastruktur.

Es fehlen zunehmend die Experten

Eine grosse Herausforderung ist allerdings der Fachkräftemangel: Nachdem Anfang der 1990er Jahre der Reaktorbau weitgehend zum Stillstand gekommen war, dünnte die Zahl der entsprechenden Ausbildungsplätze aus, und Know-how ging verloren. Erst unter Macron wurde die strategische Bedeutung der Kernenergie wieder betont. EdF will in den kommenden Jahren rund 10 000 Stellen im Nuklearbereich schaffen.

Aber diese Arbeitsplätze zu besetzen, könnte sich als schwierig erweisen. Die Nachfrage nach Nuklearspezialisten sei hoch, schrieb die EU-Kommission in einem Bericht im Juni. «Wenn die Länder nicht Massnahmen ergreifen, wird Europa unter einem Fachkräftemangel im Nuklearbereich leiden.»

Dabei werden laut der Kommission die Spezialisten nicht nur den Kraftwerksbetreibern fehlen, sondern auch den Aufsichtsbehörden. Europa muss also Experten ausbilden – sonst scheitert die von manchen erhoffte Renaissance der Nuklearenergie bereits daran.