So ganz geheuer ist es ihm noch immer nicht. Als Leo Latasch vor einigen Monaten von einer Mitarbeiterin der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt erfuhr, dass er zusammen mit seinem ehemaligen Vorstandskollegen Salomon Korn mit dem Ehrensiegel in Silber, der höchsten Auszeichnung der Gemeinde, bedacht wird, lautete seine erste Reaktion: „Muss das sein?“ Der Aufwand erschien ihm nicht gerechtfertigt.
Das Ehrensiegel sei zuvor nur vierzehnmal vergeben worden, erläutert Latasch beim Gespräch in seiner Wohnung in der Braubachstraße, „an Menschen, die viel für die Gemeinde oder für das Judentum gemacht haben“. Zuletzt wurden die Zeitzeugin Eva Szepesi und Hessens ehemaliger Ministerpräsident Volker Bouffier ausgezeichnet.
Unter den früheren Trägern des Ehrensiegels sind die Zeitzeugin Trude Simonsohn und der einstige Gemeindevorsitzende Ignatz Bubis. Vor allem angesichts von Bubis’ und Simonsohns Leistungen für die jüdische Gemeinschaft empfindet Latasch Ehrfurcht: „Ich finde, es steht mir nicht zu, mich mit ihnen zu vergleichen.“
„Ich freue mich unheimlich“
Die Verleihung des Ehrensiegels am 3. September rückt näher. „Ich freue mich unheimlich“, sagt Leo Latasch. Dabei ist der frühere ärztliche Leiter des Frankfurter Rettungsdienstes Auszeichnungen gewissermaßen gewohnt. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Latasch das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland erhalten wird. Geehrt wird der habilitierte Anästhesiologe für sein langjähriges Wirken im Katastrophen- und Bevölkerungsschutz, in der Notfallmedizin sowie in der Medizinethik. Nach der Verdienstmedaille und dem Verdienstkreuz 1. Klasse ist es Lataschs drittes Bundesverdienstkreuz.
Gravitätisch wirkt Leo Latasch deswegen noch lange nicht. Aus seinem reichhaltigen Erfahrungsschatz kann er unzählige Anekdoten darbieten. Latasch pflegt einen unüberhörbaren Frankfurter Singsang – und nimmt kein Blatt vor den Mund.
Leo Latasch auf einem Foto aus dem Jahr 2016, erschienen in dem Buch „Gwarim – Fotografien und Geschichten jüdischer Männer in Deutschland“Rafael Herlich
Angefangen habe sein Engagement in der Jüdischen Gemeinde „damit, dass ich gemeckert habe“. Immer wieder habe er sich beim damaligen Vorstandsvorsitzenden Ignatz Bubis über allerlei Missstände beschwert. Irgendwann habe Bubis geantwortet: „Dann mach’s doch besser!“ So kam Latasch über Bubis’ Wahlliste in den Gemeinderat und gehörte schon bald dem Vorstand an, wo er die Dezernate für Soziales und Sicherheit übernahm.
Mehr als 30 Jahre währte Leo Lataschs ehrenamtliche Arbeit in den Gemeindegremien, dazu kamen sieben Jahre als kommissarischer Leiter des Jüdischen Altenzentrums an der Bornheimer Landwehr. Bei der Gemeinderatswahl im Herbst 2024 war er wie der langjährige Vorstandsvorsitzende Salomon Korn nicht mehr angetreten.
„Wir haben Erfolge gesehen, wir haben gesehen, wie die Gemeinde wächst“, resümiert Latasch. An diesen Dingen habe er gern mitgewirkt. Die Gemeinde sei wie sein zweites Zuhause gewesen. Einige Ehrenämter, etwa im Vorstand der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, des Jüdischen Nationalfonds und der Kinder- und Jugend-Aliyah, übt er auch weiterhin aus: „Ganz aufgeben möchte ich es noch nicht.“
Ignatz Bubis hat ihn geprägt
Immer wieder kommt Leo Latasch auf Ignatz Bubis’ Verdienste für das jüdische Leben in Frankfurt und darüber hinaus zu sprechen. Dass die Jüdische Gemeinde heute so gut dastehe, „haben wir ihm zu verdanken“. Nach Bubis’ Tod im Jahr 1999 übernahm Salomon Korn, der als Architekt das 1986 eingeweihte Gemeindezentrum mitverantwortet hatte, den Vorstandsvorsitz. „Er genießt auch heute noch einen extrem hohen Respekt bei der Landesregierung“, würdigt Latasch seinen ehemaligen Vorstandskollegen. Das Verhältnis der Jüdischen Gemeinde zur Kommunal- und Landespolitik sei bis heute sehr gut.
Gleichwohl umtreibt es Latasch, ob dies auch künftig so bleiben wird. Dass die Zeiten rauer werden, drückt er mit einem Ausspruch aus, der, wie Latasch betont, nicht von ihm stamme: „Der Auschwitz-Bonus ist weg.“ Bei bestimmten Dingen müsse die jüdische Gemeinschaft heute hart kämpfen. Ein großes Thema sei der auf allen Ebenen steigende Antisemitismus.
Mit den Zuständen in Berlin sei die Situation in Frankfurt aber nicht zu vergleichen: „Die Polizei lässt das hier nicht so durchgehen und schleifen.“ Ausdrücklich lobt Latasch den zwischen der Kommunalpolitik und der Jüdischen Gemeinde herrschenden guten Umgang: „Da ist Frankfurt ein herausragendes Beispiel in Deutschland, wie es laufen kann.“
Ein „hoch bezahlter Luftkutscher“ wollte Latasch nicht werden
Geboren wurde Leo Latasch in Offenbach – weil Herbert Lewin, späterer Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, die Frauenklinik des dortigen Stadtkrankenhauses leitete: „Das Vertrauen zu deutschen Ärzten war selbst 1952 nicht so groß.“ Lataschs Eltern waren sogenannte Displaced Persons: Sein aus Breslau stammender Vater hatte drei Konzentrationslager überlebt, seine Mutter kam aus Wilna und war in zwei Konzentrationslagern gewesen. Latasch wuchs in Frankfurt auf und absolvierte sein Abitur an der Wöhlerschule im Stadtteil Dornbusch.
Nach dem Schulabschluss schlug Latasch trotz bestandener Tests eine Pilotenausbildung bei der Lufthansa aus. Er habe zwar immer fliegen wollen – die Aussicht, ein „hoch bezahlter Luftkutscher“ zu sein, habe ihn aber abgeschreckt.
Also studierte Latasch, der zu dieser Zeit schon im Rettungsdienst arbeitete, Medizin an der Goethe-Universität. Mit den Jahren wurde er zu einem international gefragten Experten für Anästhesie und Rettungsmedizin. So konzipierte er die 2010 am Frankfurter Flughafen durchgeführte Großübung „SOGRO MANV 500“, bei der über 1200 Einsatzkräfte die Versorgung von mehr als 500 Verletztendarstellern probten.
Im Einsatz für die Europäische Union
Dass die medizinische Versorgung vieler Verletzter in Zeiten internationaler Spannungen schnell aktuell werden kann, lässt sich an Lataschs Reisekalender ablesen. Im Januar war er in Lissabon, um an der „Modex“-Übung der Europäischen Union teilzunehmen: „Wir haben ein Feldlazarett aufgebaut, und sie haben uns mit Probepatienten zugeschmissen.“
Im Oktober wird Leo Latasch in Graz als Experte an einer weiteren EU-Großübung teilnehmen. Im September 2024 absolvierte er gemeinsam mit einem Freund einen einmonatigen Einsatz in Kairo: „Dort war ich für die Weltgesundheitsorganisation Medical Coordinator für Gaza.“
Im Beruf hat seine jüdische Herkunft nie eine Rolle gespielt
Als leitender Notarzt ist Leo Latasch auch nach über 30 Jahren weiterhin aktiv: „Solange ich noch ordentlich rennen kann, wenn es sein muss, und der Kopf noch funktioniert, mache ich das noch.“ Die Frage, ob er einen explizit jüdischen Blick auf die Medizin habe, verneint Latasch indes. Von 2012 bis 2020 gehörte er zwar als jüdischer Vertreter dem Deutschen Ethikrat an. Ansonsten aber, so Latasch, habe seine Herkunft im Beruf nie eine Rolle gespielt – „weder positiv noch negativ“.
Trotz professioneller Abgebrühtheit und erfahrungsgesättigter Skepsis zeigt Latasch immer wieder auch seine weiche, menschenfreundliche Seite. So berichtet er über die zahlreichen Reisen, die er zusammen mit seiner Frau in der ganzen Welt unternommen hat. Er erzählt von ihrem Vorhaben, zur Kirschblütenzeit gemeinsam nach Japan zu fliegen.
Soziale Missstände wie Altersarmut oder das Nebeneinander von grellem Reichtum und extremer Bedürftigkeit lassen Latasch nicht kalt. „Von Frankfurt wünsche ich mir manchmal ein bisschen mehr Soziales“, sagt er. Sein Kalender ist auch nach der Pensionierung und dem Ausscheiden aus dem Gemeindevorstand äußerst gut gefüllt. Die Tage vergingen so schnell, staunt Latasch, dass er sich abends frage: „Was hast du überhaupt gemacht?“