Eine Woche und gefühlte eintausend Spekulationen nach dem Alaskagipfel der Präsidenten Donald Trump und Wladimir Putin hält die Welt nicht viel mehr als einen Strauß alternativer Szenarien in der Hand. Ein Ende des Kriegs in der Ukraine ist weder absehbar noch ausgeschlossen, entsprechend klaffen die Szenarien auseinander.
Selbst der Best Case der Europäer ist (theoretisch) nicht vom Tisch: Ein wirtschaftlicher Zusammenbruch oder ein Machtwechsel in Moskau zwingt Russland zum Rückzug – vielleicht darf es die Krim behalten, die gute alte Ordnung wäre wiederhergestellt. Voraussetzung einer solchen Kriegsstrategie über die lange Distanz ist allerdings, dass Landdrohnen es vermögen, die fehlenden ukrainischen Männer zu ersetzen.
Wahrscheinlicher zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist ein Kompromiss. Doch bis es soweit ist, gehen vielleicht Monate ins Land. Zwei Themen stehen im Mittelpunkt: Gebietsabtretungen und Sicherheitsgarantien. Zu beiden ist das Verständnis der russischen Position hilfreich. Ein Beispiel: Was meint man in Moskau mit „Gebietstausch“? Die paar hundert Quadratkilometer russisch okkupiertes Territorium in der nichtannektierten Oblast Charkiw gegen rund 20 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets? Wohl kaum.
Russland will den Nordwesten Donezks
Laut Putins Selbstverständnis gehören seit Herbst 2022 vier ukrainische Gebiete zur Russischen Föderation: Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Davon hat die russische Armee nur Luhansk komplett erobert. Im Donezker Gebiet steht der Nordwesten, mindestens 7000 Quadratkilometer, weiterhin unter ukrainischer Kontrolle. In den westlicher gelegenen Gebieten Cherson und Saporischschja kontrollieren die Russen nur den jeweiligen Süden.
Wenn russischerseits von Gebietstausch die Rede ist, dürfte es um den bislang nicht okkupierten Nordwesten der Region Donezk gehen – für den ist Russland großzügig bereit, auf den annektierten (aber nie eroberten) Norden der Gebiete Cherson und Saporischschja zu verzichten. Taschenspielertricks, möchte man meinen, doch wer mit Russland verhandelt, muss mit solchen Tricks rechnen.
Für die Ukrainer wäre die Hergabe des restlichen Donezk eine Kröte erster Ordnung. Dort erstreckt sich der Schwerpunkt ihrer Verteidigungslinien, ihr Ostwall gewissermaßen. Dem entsagen sie nur, wenn sie westliche Sicherheitsgarantien von einer Qualität erhalten, die jeden künftigen russischen Angriff so gut wie unmöglich macht.
Stichwort Sicherheitsgarantien. Die kamen bereits bei den Verhandlungen in Istanbul im Frühjahr 2022 zur Sprache. Damals legte Russland Wert auf eine gemischte, westlich-nichtwestliche Truppenpräsenz; die Rede war von der Türkei und Belarus. Wichtiger noch: Russland wollte mitbestimmen, ob und wann diese Truppe zum Einsatz kommt. Für die Ukraine und ihre westlichen Verbündeten bleibt das inakzeptabel. Kein Angegriffener räumt dem Angreifer ein Vetorecht bei seiner Verteidigung ein.
Pikant sind die Sicherheitsgarantien auch aus russischer Perspektive. Was geschieht, wenn mitten im Waffenstillstand ukrainische Freikorps oder Freischärler zur Rückeroberung der völkerrechtlich immer noch ukrainischen Gebiete ansetzen? Im Westen wird man mit den Achseln zucken: Das hat der Russe nun davon. Womöglich wird man den ukrainischen Kämpfern auch Waffen liefern oder anderweitig helfen.
Das beiderseitige Misstrauen verkompliziert auch den Einsatz ausländischer Bodentruppen. Werden die nur auf Russen schießen oder auch auf Ukrainer, wenn jene den Waffenstillstand brechen? Werden sie überhaupt schießen oder durch die Finger schauen wie die niederländischen Blauhelm-Soldaten beim Massaker von Srebrenica 1995? Das Thema Sicherheitsgarantien ist geeignet, jeden Vermittler verzweifeln zu lassen.
Misstrauen zwischen Russland und dem Westen
Dabei wäre ein Kompromissfriede durchaus möglich, sogar die perspektivische Wiederaufnahme russisch-ukrainischer Wirtschaftsbeziehungen und mehr. Beide Seiten sind abgekämpft, beide wissen, dass sie ihre Maximalziele nicht erreichen. Was einen solchen Frieden trotzdem so unwahrscheinlich macht, ist das abgrundtiefe gegenseitige Misstrauen – nicht so sehr zwischen Ukrainern und Russen als vielmehr zwischen Russland und dem Westen. Beide unterstellen sich gegenseitig, die Ukraine zum Vasallenstaat und zum Aufmarschgebiet für den jeweils nächsten Expansionsschritt machen zu wollen: Russland Richtung Westen, der Westen Richtung Russland.
Es ist dieses gegenseitige Unterstellen böser Absichten, das einen geopolitischen Konflikt, der bereits im 19. Jahrhundert zwischen dem „liberalen“ Westen und dem „despotischen“ Osten aufbrach, auch im postsowjetischen und inzwischen sogar postwestlichen 21. Jahrhundert am Köcheln hält. Das Tauwetter nach dem Ende des Kalten Kriegs um 1990 hat daran nichts geändert.
Die Pessimisten, die von der Unmöglichkeit eines kurzfristigen Waffenstillstands sprechen, haben insofern recht, als ein Waffenstillstand das Grundproblem – Putins root causes – nicht aus der Welt schaffen würde. Dennoch irren beide, Putin und die Pessimisten. Nur nach einem Waffenstillstand als Schritt eins wird es möglich sein, den Fokus auf Schritt zwei zu lenken: eine Friedenslösung in Gestalt einer reformierten europäischen Sicherheitsarchitektur.
Wird diese Aufgabe nicht angegangen, gerät die Welt vor die Wahl zwischen einem aussichtslosen Krieg und einem aussichtslosen Nichtkrieg. Eben weil der Konflikt durch Russland und die Ukraine allein nicht lösbar ist, droht mittelfristig die Gefahr eines europäischen Krieges, in den Polen und andere hineingezogen werden. Vielleicht auch Deutschland. Wie immer dieser Krieg ausgehen würde, wir können ihn nicht wollen.
Der Donbass spielt keine Rolle
Mit Abschottung, Aufrüstung und Abschreckung allein wird der Knoten nicht zu lösen sein – jeder vergleichbar tief verwurzelte Konflikt, der in Friedenszeiten nicht beigelegt wurde, ist noch in Gewalt ausgeufert. Immerhin hat die Trump-Administration seine Bedeutung verstanden. Es geht nicht mehr um die zerstörte westliche Ordnung, es geht um die Welt im Werden: China und Indien, der Pazifik, Russlands geopolitische Zukunft, der Globale Süden, Amerikas künftige Machtposition. Der Donbass spielt da keine Rolle.
Anders als es die Europäer glauben, wäre eine russische Niederlage auch nicht ihr Best Case. Eine Niederlage würde den Moskauer Revanchismus nur prolongieren. Viel wichtiger wird sein, nach dem Ende des sinnlosen Kriegs die europäische Welt – unter Einschluss Russlands – in eine neue Zeit zu überführen.
Die Falken werden jetzt höhnisch lachen. Für sie wäre schon das Kriegsende in der Ukraine gleichbedeutend mit München 1938; sie sehen die Russen an Weichsel, Elbe und Rhein. Höhnisch gelacht haben 1970, als Willy Brandt die Ostverträge unterschrieb, auch die Kommunistenhasser und Vertriebenenpolitiker. Doch ohne Entspannungspolitik und KSZE-Schlussakte kein Ende des sowjetischen Imperiums – da waren nicht nur Ronald Reagans Mittelstreckenraketen.