Die Aussicht ist grandios. In dieser Hinsicht erfüllt die Türmerstube des Frankfurter Doms, oder besser gesagt die umlaufende Balustrade, die Erwartungen. In alle Richtungen kann man über die Stadt blicken, den Main entlang, über die Dächer hinweg Richtung Odenwald und Taunus. Auch die drei verwinkelten Zimmer der Stube, die sich um einen kreisrunden Innenraum gruppieren, bedienen alle romantischen Vorstellungen vom Leben in einsamer Höhe. Die Decke mit ihrem Rippengewölbe, die sandsteinroten Wände und die kleinen Sprossenfenster vermitteln eine heimelige Atmosphäre. Eine „winzige, glückliche Welt für sich“, wie Victor Hugo 1842 bei seiner Rheinreise schrieb, als er auf dem Pfarrturm der Wohnung einen Besuch abstattete.
Die historischen Schwarz-Weiß-Bilder des Türmers Johannes Rüb und seiner Frau, die in der neuen Dauerausstellung über die lange Zeit höchste Wohnung Frankfurts zu sehen sind, geben hingegen einen Eindruck der beengten Verhältnisse. Rüb war Feuerwehrmann und tat von 1896 bis 1930 als Türmer Dienst. In 66 Metern Höhe mussten seinesgleichen seit jeher Brandwache halten und Feuer melden. Ein Schreiben Rübs an die Branddirektion macht die letzten Illusionen über einen vermeintlichen Traumjob zunichte, bei dem man dem Trubel des Alltags im Wortsinn enthoben ist.
„Heute wäre der Türmer ein Bediensteter der Branddirektion“
Rüb beschreibt angesichts der Mieterhöhung von 120 auf 300 Mark jährlich eine Reihe von Umständen, die eher für eine Mietminderung sprechen. Eines der Stübchen muss mangels Keller für diesen Zweck herhalten, ein anderes ist nicht geheizt und daher nur im Sommer zu nutzen, das dritte dient daher als Wohnküche, muss aber auch noch ein Bett aufnehmen. Im Winter bläst der scharfe Nordost durchs Fenster, eine schlechte Petroleumbeleuchtung erhellt kaum den verrußten Raum, und es gibt weder Wasser noch Abfluss – alles muss der Türmer mit dem Seilaufzug hinauf- und herunterschaffen. Zum Wäschewaschen muss seine Frau die 328 Stufen nach unten und danach wieder hinaufgehen.
„Heute wäre der Türmer ein städtischer Bediensteter der Branddirektion“, sagte Stadtkämmerer Bastian Bergerhoff (Die Grünen) bei der Eröffnung der Ausstellung. „Aber ich wäre in Argumentationsnot, jemanden von der Arbeit zu überzeugen.“ Zumal die ganze Familie mithelfen musste, denn die Brandwache war rund um die Uhr zu halten. Seit 1942 der letzte Türmer Oskar Lipp starb, gibt es den Posten nicht mehr. Bergerhoff ist zwar Dezernent für die acht Dotationskirchen, um die sich die Stadt nach dem 1830 geschlossenen Vertrag kümmert.
Für den Domturm reicht hingegen sein Amt als Finanzdezernent, denn der Turm war von Anfang an städtisch. Als Frankfurt 1415 begann, ihn am Bartholomäusdom als Zeichen seiner eigenen Bedeutung, aus Bürgerstolz und angesichts der Konkurrenz anderer Turmbauten in Freiburg und Ulm zu errichten, übernahm die Stadt den Bau. Dafür musste das alte Rathaus weichen – und zog an den Römerberg um, seinen heutigen Standort.
Fast 100 Jahre lang baute man am Turm nach den Plänen von Madern Gerthener, doch die Baustelle ruhte oft, und angesichts sozialer und religiöser Umbrüche schloss man ihn 1514 mit einer provisorischen Kuppel in 67 Meter Höhe. Erst nach dem Dombrand von 1867 wurde die Laterne mit Turmspitze nach den Vorstellungen Gertheners fertiggestellt, und der Turm erreichte seine heutige Höhe von 95 Metern.
Ein Amt gegen Katastrophen und Aufmärsche
An Johann Wolfgang Goethe kommt man auch hier nicht vorbei. Beim Verfassen des Türmerlieds in Faust II – „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“ – habe er vielleicht auch den Pfarrturm seiner Heimatstadt im Sinn gehabt, sagte Dompfarrer Johannes zu Eltz. Zumindest Goethes Schwester Cornelia hat ihn bestiegen und davon auf Französisch in einem Brief berichtet, der ebenso wie Victor Hugos Schilderung an einer Wand nachzulesen ist. Viermal mussten sie beim Aufstieg zum Luftholen pausieren, beim Abstieg hingegen zitterten am Ende nicht nur die Knie.
Früher war mehr Ruß: Bettina Schmitt, Direktorin des DommuseumsPeter Jülich
Als einen wichtigen Bestandteil der Infrastruktur bezeichnete Bettina Schmitt den Domturm. Der Türmer habe auch Katastrophen, Truppenaufmärsche und Ankunft und Abfahrt des Marktschiffs angekündigt, sagte die Direktorin des Dommuseums, das sich auch um die Türmerstube kümmert. Trotzdem waren sie Außenseiter, deren Kinder keinen Zunftberuf erlernen durften, erläuterte Wolfgang Cilleßen, der die Ausstellung mit Schmitt konzipiert und die Texte geschrieben hat.
Mit nachgebildeten Möbeln gibt sie einen Eindruck vom einsamen Leben des Türmers und der Geschichte des Bauwerks. Besichtigt werden kann sie samstags von 13 bis 18 Uhr. Aus Anlass der Eröffnung ist sie zudem in dieser Woche unter dem Motto „Sommerabend auf dem Domturm“ bis einschließlich Freitag jeweils von 17 bis 20 Uhr zugänglich.
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