Während der Westen diskutiert, wie Sicherheitsgarantien aussehen könnten und Russland bekräftigt, dass es weiterhin keinerlei Interesse an Frieden hat, treibt die Ukraine ihre Aufrüstung voran – und scheint Ziele tief in Russland bald noch schlagkräftiger ins Visier nehmen zu können.
Erstmals wurden in dieser Woche Details über den neuen ukrainischen Marschflugkörper Flamingo bekannt – und sorgten prompt für nervöse Reaktionen in Moskau. Das Waffensystem habe die Testphase bestanden und befinde sich nun in der Serienproduktion, hieß es aus der Ukraine derweil.
Die Nachrichtenagentur Associated Press veröffentlichte zudem Aufnahmen aus einer geheimen Produktionsstätte, in der die schlagkräftige Waffe mit dem harmlos klingenden Namen hergestellt wird. Bereits jetzt werde pro Tag ein neuer Marschflugkörper produziert, hieß es in Medienberichten.
Marschflugkörper Flamingo: „3.000 Kilometer weit nach Russland“
„Wir wollten damit nicht an die Öffentlichkeit gehen, aber es scheint der richtige Zeitpunkt zu sein. Flamingo ist ein Langstrecken-Marschflugkörper, der einen 1.150 Kilogramm schweren Sprengkopf tragen und 3.000 Kilometer weit nach Russland fliegen kann“, sagte Iryna Terekh, CEO und technische Direktorin des ukrainischen Herstellers, jetzt gegenüber dem US-Medium „Politico“.
Arbeiter inspizieren einen Flamingo-Marschflugkörper in der geheimen Fabrik von Fire Point.
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Der Marschflugkörper sei in kurzer Zeit entwickelt worden – „von der Idee bis zu den ersten erfolgreichen Tests auf dem Schlachtfeld dauerte es weniger als neun Monate“, erklärte Terekh weiter. Flamingo sei „schneller als alle anderen Raketen, die wir derzeit haben“, führte die Firmenchefin aus. Die genaue Geschwindigkeit soll jedoch geheim bleiben.
„Es sind Raketen mit weiblicher Handschrift“
Die Hintergründe des ungewöhnlichen Namens allerdings nicht. „Es sind Raketen mit weiblicher Handschrift“, sagte Terekh. Die ersten Flamingos seien pink gewesen. Die Farbe sei zunächst ein interner Firmenwitz über die unbeachtete Rolle von Frauen in der männerdominierten Welt der Waffen und des Krieges gewesen.
Schließlich habe man das Äußere des Marschflugkörpers jedoch militärischen Tarnvorschriften anpassen müssen, erklärte die Firmenchefin. Der Name Flamingo ist dennoch geblieben. „Man braucht keinen furchteinflößenden Namen für eine Rakete, die 3.000 Kilometer weit fliegen kann“, betonte Terekh.
Flamingo: Größere Reichweite als Taurus-Marschflugkörper
Für die Ukraine könnte der Flamingo künftig neue Möglichkeiten auf dem Schlachtfeld eröffnen – weitreichende Raketen und Marschflugkörper sind bisher Mangelware, auch weil westliche Länder derartige Waffen nicht an das angegriffene Land liefern wollten. Weder der deutsche Taurus, noch der amerikanische Tomahawk landeten in der Ukraine.
Der Flamingo soll diesen Nachteil nun beheben – und kann das allem Anschein nach auch. Bei der Reichweite ist das ukrainische Modell dem Taurus überlegen, das Gewicht des Sprengkopfs übertrumpft jenes von Tomahawk-Marschflugkörpern – und richtet damit deutlich größeren Schaden an als die Kampfdrohnen, die bisher für Angriffe auf Ziele in Russland oftmals zum Einsatz kommen.
Wird der Flamingo zur „stärksten Sicherheitsgarantie“ der Ukraine?
Experten halten die Angaben über das neue ukrainische Waffensystem für glaubhaft. Der Flamingo habe Ähnlichkeit zu einem Marschflugkörper namens FP-5, den das britische Unternehmen Milanion vorgestellt habe, zitierte der „Spiegel“ Fabian Hinz, einen Militäranalysten und Raketenexperten vom „International Institute for Strategic Studies“ in London. Flamingo-Hersteller Fire Point bestreitet allerdings, dass der Marschflugkörper auf der britischen Waffe basiere.
Fabian Hoffmann, Doktorand und Raketenexperte an der Universität Oslo, sieht in dem Marschflugkörper derweil die „stärkste Sicherheitsgarantie“ der Ukraine. Bald will das Land rund 200 Flamingos pro Monat produzieren. Laut Hoffmann hätte jedoch bereits „eine stetige Lieferung von 30 bis 50 Raketen pro Monat wahrscheinlich spürbare Auswirkungen“ auf den Krieg.
Machen 5.000 Flamingos Russlands Krieg „unhaltbar“?
Die russische Luftabwehr stoße bereits jetzt an ihre Grenzen, erklärte der Raketenexperte auf der Plattform X. Mit dem Flamingo werde sich das Gebiet, das vor ukrainischen Raketen geschützt werden muss, nun „noch weiter ausdehnen“, führte Hoffmann aus. Die Frage sei also nur, wie viele der Geschosse Russland abfangen kann. Dass einige der Flamingos ihr Ziel treffen werden, sei derweil klar.
Die neue weitreichende Waffe werde jedoch nicht nur Auswirkungen auf den laufenden Krieg haben, sondern könnte auch „der Beginn einer glaubwürdigen ukrainischen Fähigkeit zum konventionellen Gegengewicht markieren, um künftige russische Aggressionen abzuschrecken“, erklärte Hoffmann zudem.
„Wenn es möglich ist, 3.000 bis 5.000 dieser (und ähnlicher) Raketen aufzustellen, die innerhalb von 24 bis 48 Stunden einsatzbereit sind und über 25 Prozent der russischen Wirtschaftsleistung zerstören können, wird eine weitere russische Aggression unhaltbar“, beschrieb der Experte das Abschreckungspotenzial des Flamingos.
Selenskyj: „Bis Dezember werden wir noch viel mehr davon haben“
Dass man viele Flamingos braucht, um Russland in Schach zu halten, scheint man auch in Kyjiw so zu sehen. „Bis Dezember werden wir noch viel mehr davon haben“, erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in dieser Woche. Die Massenproduktion des Marschflugkörpers könne in absehbarer Zeit beginnen, erklärte der Präsident.
Teile von Flamingo-Raketen sind in der geheimen Fabrik von Fire Point zu sehen.
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Von ihren Unterstützern scheint die Ukraine zudem grünes Licht für den Einsatz des schlagkräftigen Flamingos zu bekommen. „Es ist sehr schwer, wenn nicht unmöglich, einen Krieg zu gewinnen, ohne ein Invasorenland anzugreifen. Es ist wie bei einer großartigen Sportmannschaft, die eine fantastische Verteidigung hat, aber nicht in die Offensive gehen darf“, schrieb US-Präsident Donald Trump zuletzt etwas kryptisch auf seiner Plattform Truth Social nach massiven russischen Luftangriffen. Es las sich wie eine Ermutigung zu ukrainischen Gegenangriffen. „Es stehen uns interessante Zeiten bevor“, fügte Trump hinzu.
Grünes Licht für Gegenangriffe: „Druck auf Russland ausüben“
Selenskyj stimmte postwendend zu. Die ukrainische Armee könne nicht ausschließlich auf Verteidigung setzen, erklärte der Präsident in einer Videoansprache in dieser Woche. „Dieser Krieg muss beendet werden, wir müssen Druck auf Russland ausüben“. Kremlchef Wladimir Putin verstehe „nichts außer Macht und Druck“, erklärte Selenskyj. Wenig später zerstörten ukrainische Drohnen eine wichtige Ölpumpstation der russischen Druschba-Pipeline und brachten den Ölfluss zum Erliegen.
Der Wunsch nach Vergeltung ist groß in der Ukraine, angesichts des täglichen Drohnen- und Raketenhagels, den Russland auf ukrainische Städte niedergehen lässt. „Die Menschen wollen Ergebnisse, sie wollen den Roten Platz in Flammen sehen“, sagte Firmenchefin Terekh dazu. „Aber es ist wichtig zu verstehen, dass wir keine Terroristen sind wie unsere Nachbarn.“
Kremlmedien nervös: „Europäischer Teil Russlands in Schussweite“
Das Ziel der Entwicklung von Systemen wie Flamingo sei, sicherzustellen, dass Russland seinen Krieg nicht fortsetzen – und in Zukunft nicht erneut angreifen kann. Der Schlüssel zur ukrainischen Sicherheit, sei es „vollständig mit ukrainischen Waffen bewaffnet zu sein“, erklärte Terekh und unterstrich damit, dass Waffensysteme wie der Flamingo der Ukraine als verlässlichere Sicherheitsgarantie erscheinen, als Verträge, an die sich Russland im Zweifel ohnehin nicht halten würde.
In Moskau scheint das Signal angekommen zu sein. Bereits bevor der Flamingo offiziell zum Einsatz gekommen ist, erzielt der Marschflugkörper seine Wirkung. Nachdem erste Details zu der neuen Waffe bekannt geworden waren, versuchte die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass eilig die Bedrohung durch den Marschflugkörper herunterzuspielen.
Manch Propagandist im Staats-TV wurde derweil deutlicher – und belegte damit eine gewisse Nervosität angesichts der großen Reichweite und Schlagkraft des Flamingos. „Das bedeutet, dass der gesamte europäische Teil Russlands, der Ural und sogar ein Teil von Westsibirien in Schussweite liegen“, erklärte TV-Moderatorin Olga Skabejewa ihren Zuschauern beim Staatssender Rossija 1, was da auf Russland zukommt.