Auf dem Spielplatz, unterwegs oder zu Hause: Sind Kleinkinder untröstlich, greifen viele zu kleinen Snacks. Doch welches Bedürfnis Kleinkinder damit tatsächlich zeigen und worauf Eltern unbedingt achten sollten, erklärt eine Expertin.
Draußen, auf dem Gehweg, tragen Eltern ihre Babys vor der Brust in Tüchern gewickelt durch den Vormittag. Drinnen, in warmem Beige gestrichenen Praxisraum von Marion Brinkers, lädt eine Kinderküche, eine Kiste mit Bauklötzen, ein Hund auf Rädern zum Ziehen und ein Stapelturm zum Spielen ein. Wenn Eltern die Familienberaterin aufsuchen, bringen die meisten ihren Nachwuchs mit. Der Schlaf von Babys, Kleinkindern und Heranwachsenden ist das Spezialgebiet der Hamburgerin. Inwiefern der Wunsch von Kindern nach Ruhepausen durch das Bedürfnis nach Essen artikuliert wird, erklärt die Familienberaterin im Interview.
WELT: Dass es bei der Nahrung mehr als um Aufnahme von Kalorien geht, kann man bei Babys beobachten. Sie trinken, auch um zur Ruhe zu kommen. Kommen wir mit dem Instinkt zur Welt, das Essen auch Entspannung bedeutet?
Marion Brinkers: Ja, das könnte man vielleicht so sagen. Unser Verhalten wird aber nicht nur durch unsere Instinkte bestimmt, sondern auch durch Verstehen lernen und Erfahrungen machen. Darum lernen Babys schnell, dass Trinken, Hunger und Durst ebenso das Bedürfnis nach Nähe und Trost befriedigt, so verknüpfen sie Nahrungsaufnahme also nicht nur mit „Hunger stillen“, sondern auch mit Ruhe und Erholung finden. Beides sind ja wichtige, menschliche Grundbedürfnisse.
WELT: Mit der Beikost fangen Kinder an, Mahlzeiten zu bestimmten Zeiten zu essen. Dazwischen trinken Kinder Milch oder greifen zu ersten Snacks. Wie kommt es, dass Kinder etwas essen möchten, obwohl sie eigentlich satt sein müssten?
Brinkers: Bereits mit drei Monaten lernen Babys wichtige Selbstberuhigungsmöglichkeiten. Sie nehmen ihre Händchen zusammen und bald auch in den Mund. Vieles, was wir über den Mund machen, soll uns beruhigen. Da ist das Daumenlutschen, Schnullern, an den Fingern kauen und eben auch snacken. Auch wir Erwachsene kauen auf Bleistiften und essen, ohne Hunger zu haben. Die abendliche Erdnuss Flips-Session ist ein Beispiel. Sie hilft uns beim Herunterkommen.
WELT: Ernährungsexperten sagen, dass häufiges Snacken zu einem Verlust klassischer Mahlzeitenstruktur führt. Wie sehen Sie das?
Brinkers: Oft wird argumentiert, jetzt keinen Snack mehr – gleich gibt es Abendbrot. Ich denke, dass die Kinder damit ja ein Bedürfnis äußern, das sowohl Hunger und Durst als auch Ruhe und Erholung bedeuten kann. Und dann ist ein gesunder Snack vor dem Essen in Ordnung. Ich finde, ein Apfel geht immer. Und entscheidend ist für mich eher das Setting. Was mit Mahlzeiten gemeint ist, ist ja: Wir treffen uns, wir sitzen beisammen, wir reden miteinander, wir kommen zur Ruhe.
WELT: Das gemeinsame Essen als Auszeit vom Alltag gilt noch immer als heiliges Ritual. Für viele Eltern ist das ein Dilemma. Sie wissen um den Wert dieser Mahlzeiten, schaffen es aber nicht oder nicht immer, sie im Alltag fest zu verankern.
Brinkers: Die Familienstrukturen verändern sich und auch die Arbeitswelt. Aber die Qualitäten, die ich eben genannt habe, die können wir auch in kleinen Momenten und Auszeiten herstellen. Wenn Eltern eine Situation kreieren, die den Kindern zeigt „Wir gehen weg vom Trubel, wir setzen uns, du bleibst bei mir, wir schauen zusammen, was wir Leckeres eingepackt haben“, dann merken Kinder: Essen ist etwas, das uns, das mir guttut. Kinder fordern oft Essen ein, um sich zu beruhigen, laufen aber dann damit herum. Und dann funktioniert das mit dem Runterkommen nicht. Da wird weder Hunger gestillt, noch das Bedürfnis nach Erholung. Kinder sollten lernen: Beim Snacken und Essen entstehen auch schöne ruhige Momente, eine erholsame Auszeit. Damit sie diese Verbindung herstellen, müssen Eltern diese Momente kreieren.
WELT: Einkaufen kann ein Spießrutenlauf werden, etwa wenn gleich am Eingang in der Fruchtabteilung Quetschies für die Kinder griffbereit da liegen. Wissen Sie einen Trick?
Brinkers: Ja. Ganz grundsätzlich würde ich sagen: Je nachdem, wie alt die Kinder sind, würde ich tatsächlich am späten Nachmittag mit Kindern nicht mehr einkaufen gehen, wenn es nicht unbedingt sein muss. Der Grund, warum Einkaufen mit Kindern manchmal so schwierig wird, ist meist, weil sie einfach müde und k.o. sind. Vormittags gibt es noch eine gewisse Frustrationstoleranz, da kann man Kindern noch Vorschläge machen und mit ihnen verhandeln aber müde und k.o. funktioniert das einfach nicht mehr. Mit Kindern ab etwa vier Jahren kann man über die Verkaufstricks der Supermärkte sprechen und Alternativen anbieten.
WELT: Der Kompromiss beinhaltet oft, „Du darfst dir auch was aussuchen“. Wozu raten Sie?
Brinkers: Das finde ich in Ordnung, wir können aber die Auswahl für die Kinder einschränken. Meiner Tochter habe ich gesagt, du darfst du dir einen Joghurt aussuchen.
WELT: Da gibt es aber auch solche und solche.
Brinkers: Das stimmt. Dann müssen wir Kompromisse eingehen oder erklären, dass mit einem Joghurt nicht ein Sechserpack gemeint ist. Oder wenn es zuvor schon Süßes gab, dann ist der Joghurt eben für morgen. Und es gibt ja noch das wunderbare Wort „ausnahmsweise“. Ich liebe es, weil Kinder in der Regel sehr gut verstehen: „Eigentlich nicht, aber in dieser Situation ausnahmsweise schon.“
WELT: Sollte man Süßigkeiten für Kinder so lagern, dass sie sich selbst bedienen können oder nicht?
Brinkers: Bei manchen Kindern funktioniert das vielleicht. Dennoch bin ich dagegen, weil es nicht nur Kinder dazu verleitet, zur Beruhigung Süßes zu essen und je gestresster wir sind, um so weniger können wir dann damit aufhören. Aber ein Apfel, der ja auch süß ist, geht immer. Wie Kinder mit Süßem umgehen, hat auch damit zu tun, wie ihre Eltern es ihnen vorleben.
WELT: Man weiß um die fatale Wirkung, Kinder mit der Aussicht auf Süßes zu manipulieren. Trotzdem greifen viele Eltern regelmäßig zu dieser Krücke. Wo verläuft die Grenze?
Brinkers: Im Grunde handelt es sich um eine positive Verstärkung, eine Motivationshilfe. Ich finde sie schwierig für normale Entwicklungsphasen und -Prozesse wie sauber und trocken werden oder nachts nicht mehr ins Elternbett kommen. Da brauchen Kinder unsere Unterstützung und ehrliche Anerkennung. Aber es gibt Situationen, in denen wir von Kindern ein Mitmachen fordern müssen, obwohl sie müde sind. Etwa wenn wir uns beeilen müssen, weil der Bus sonst weg ist und die Vierjährige zu müde zum Laufen ist. Wenn wir abends doch noch schnell etwas einkaufen müssen und der Nachwuchs deswegen sein Spiel unterbrechen muss, halte ich positive Verstärkung für legitim. Es muss nicht immer etwas zu Essen sein. Eine Packung Klebebilder tut es auch.
WELT: Sie wohnen in Ottensen, also umgeben von Eltern, die in der Regel alles wissen, worauf es beim Umgang mit Kindern ankommt. Würden Sie manchmal dennoch gern eingreifen?
Brinkers: Eingreifen nicht. Aber wenn Kinder auf eine bestimmte Art weinen und schreien, denke ich oft: „Oje, da ist ja jemand sehr müde“ und meine damit auch die Eltern. Oft höre ich eher ein „Ich kann nicht mehr“ als ein „Ich will nicht “ heraus.
WELT: Was läuft dann schief?
Brinkers: Wir packen den Alltag mit Kindern oft zu voll, selbst wenn sie mit ihnen auf den Spielplatz gehen. Ich stelle fest, dass vielen Eltern oft nicht bewusst ist, dass sie auch für Ruhephasen zuständig sind. Pausen anzubieten und kindgerecht zu gestalten, damit die Kinder dabeibleiben, ist enorm wichtig. Und was wir oft verkennen: Erst nach dem Beruhigen, dem Runterkommen, beginnt die Regenerationsphase, bei der wir Kräfte sammeln. Wir befassen uns mit den Kindern oft, wenn sie laut werden und überlassen sie sich meist rasch wieder selbst, sobald sie sich beruhigt haben. Nach dem Motto „Jetzt ist ja alles wieder gut.“ Dabei fängt die Regeneration an dem Punkt erst an. Es geht also darum, solche Ruhephasen zu vertiefen. Manchmal braucht es dafür zehn, manchmal 30 Minuten oder so lange wie wir es gerade einrichten können.
WELT: Kuscheln hilft dann oft nicht, was dann?
Brinkers: Ja, oft wollen Kinder das dann erst einmal nicht, sie sind dann noch zu aufgeregt. Aber sie passiv zu bewegen, also mit Tragen oder Buggy Fahren hilft oft den Bewegungssinn zu beruhigen. Was besonders wirksam, aber leider etwas aus der Mode gekommen ist, sind Kinderlieder, Kniereiter und Fingerspiele. Wir haben die Kinder auf dem Schoß und berühren sie zärtlich. Das hilft oft sofort. Oder ganz einfach: Am Fenster stehen, raus schauen und leise werden.
Marion Brinkers hat bereits in ihrer langjährigen Tätigkeit als Kinderkrankenschwester Familien in herausfordernden Situationen begleitet. Seit über 30 Jahren arbeitet sie in Hamburg in der Familienbildung, seit 2006 auch in eigener Praxis in Ottensen. Sie gibt Fort- und Weiterbildungen für Fachkräfte, aber auch Kurse für Eltern. Dabei geht es um Fragen und Herausforderungen, die sie in den ersten Lebensmonaten und -jahren ihrer Kinder und auch später beschäftigen können. Brinkers Spezialgebiet ist das Thema Schlaf. Sie begleitet Eltern, etwa wenn Babys zu wenig schlafen oder nur schwer in den Schlaf finden. Aber auch, wenn ältere Kinder nachts immer wieder oder sehr früh wach werden. Ein weiteres Feld ist Erziehungsberatung, etwa zum Thema Wut und Trotz, Ängsten und Trennungsschmerz.
Eva Eusterhus berichtet seit 2006 für WELT und WELT AM SONNTAG aus Hamburg.