Die gute Nachricht zuerst: Neo Rauch kann witzig sein. Sehr witzig. Das macht die kürzlich eröffnete Ausstellung einer Auswahl seiner Kinderzeichnungen mehr als deutlich. Sie erschließt mühelos und unterhaltsam eine Facette seines Œuvres, die bislang kaum ersichtlich war. In den zwischen 1965 und 1968 entstandenen Zeichnungen hingegen gibt es kleine Männchen, die sich zu einem Porträtkopf formen und dabei vor Lachen fast aus dem Bild fallen.
Auf einem kunterbunt gestalteten „Wimmelbild“ finden sich komische Figuren zu grotesken Aktivitäten zusammen. Klar erkennbar wird die außerordentliche Begabung des jungen Rauch für Karikatur und Porträt. Dabei wird in vielen Zeichnungen der Einfluss von Comics deutlich. Eine am Ausgang des Rundgangs platzierte Vitrine mit siebzehn Heften der in Ost-Berlin produzierten Comicreihe „Mosaik“ erinnert daran.
Zinnsoldaten und anderes Kriegsspielzeug
Dieselbe Vitrine thematisiert aber auch einen weniger witzigen Aspekt der Ausstellung: Militär und Gewalt. In der gleichen Vitrine liegen etliche Zinnsoldaten, ergänzt um weiteres Kriegsspielzeug, darunter drei Artilleriegeschütze und ein Pkw der Wehrmacht mit zwei Landsern auf den Vordersitzen. Auch mit diesem martialischen Arrangement korrespondieren die 100 Zeichnungen der Ausstellung. Denn ein großer Teil der Exponate zeigt immer wieder bewaffnete Soldaten aus verschiedenen Epochen – einzeln, in Gruppen, untätig oder im Gefecht. Einige Zeichnungen wirken wie Karikaturen, andere besitzen einen gespenstischen Ernst. Ein starkes Moment von militärischer Gewalt und Bedrohung verbreiten schließlich die Darstellungen schwerer Kampfpanzer und eine mit einem „A“ markierte Bombe, die an den 1945 auf Nagasaki abgeworfenen „Fat Man“ erinnert.
Neo Rauchs Soldat trägt den roten Stern am Helm und ein Gewehr mit Bajonettdpa
Aus welcher historischen Periode die Bezüge zum Militär stammen, ist nicht immer eindeutig. Ein paar Darstellungen erinnern an Uniformen und Feldschlachten napoleonischer Zeit, andere an den spanischen Bürgerkrieg oder den Zweiten Weltkrieg. Auch die massive Präsenz der Roten Armee in der DDR mag eine Inspirationsquelle für einige Skizzen gewesen sein.
Die Ausstellung von Rauchs Kinderzeichnungen eröffnet einen völlig neuen Blick auf das Schaffen des erwachsenen Künstlers. Denn Bedrohung und Gewalt gibt es reichlich in Rauchs Werk. Insbesondere nach der deutschen Wiedervereinigung mehren sich Bildtitel wie „Zünder“, „Exerzierplatz“, „Kleine Kanone“, „Gefecht“ oder „Panzerbrand“. Auch in den Folgejahren lässt ihn das Martialische nicht los. Im Gegenteil. In den nach der Jahrtausendwende entstandenen Großformaten nimmt das figürliche Element ständig zu und gleichzeitig auch das Bedrohungspotential der Werke. Auf riesigen Leinwänden schwingen Husaren aus dem 19. Jahrhundert ihre Säbel, oder modern uniformierte Männer hantieren mit Langwaffen, Brandsätzen, Zündern und Bomben. Plötzlich stehen riesige Artilleriegeschütze in der Landschaft, oder ein Kampfpanzer sprengt den Bildraum.
Bunte Mischung von Feindbildern: eine frühe Collage von Neo Rauchdpa
Etliche Bildtitel scheinen direkt auf den nächstgelegenen Kriegsschauplatz zu verweisen, beispielsweise in dem Gemälde „Rückzug“ von 2006. Im Vordergrund dieses Hauptwerkes steht ein Bollerwagen mit Benzinkanistern, im Hintergrund brennt ein Gutshaus, daneben erfolgt die Hinrichtung von Zivilisten durch ein uniformiertes Erschießungskommando. Eine wenig später entstandene Bronzeskulptur trägt den vielsagenden Titel „Nachhut“. Personifiziert wird sie durch ein Mischwesen aus Mensch und Tier, das zwei Benzinkanister heranträgt. Kein Zweifel: Hier soll nur noch „verbrannte Erde“ hinterlassen werden.
Der eigene Kopf als Feriengebiet: Neo Rauchs Hommage an Arcimboldodpa
Zur Erklärung der Militärmanie in Rauchs Kinderzeichnungen wird in Interviews immer wieder auf die Weltkriegserzählungen seiner männlichen Verwandten hingewiesen, gleichsam als Antwort auf die immer noch aktuelle Frage „Wie kommt der Krieg ins Kind“. Doch die Wurzeln des militärisch-künstlerischen Komplexes reichen weiter in die Lokalgeschichte zurück. Aschersleben war von 1813 bis 1884 der Standort des Magdeburgischen Husarenregiments Nr. 10 und wird 1937 zum Garnisonsstandort der Wehrmacht. Ab 1938 gibt es dort eine Artilleriekaserne. Hinzu kommen weitere Truppenteile sowie Rüstungsbetriebe, darunter eine Außenstelle der Junkerswerke und eine Heeresmunitionsanstalt.
Die Grundausbildung hat er hinter sich: der Künstler vor einem Kinderfotodpa
Das alles hat seinen Preis. Aschersleben wird 1944 und 1945 zum Ziel alliierter Bombenangriffe mit zahlreichen Opfern in der Zivilbevölkerung, darunter auch viele „Fremdarbeiter“ aus der kriegswichtigen Industrie. Dieser Krieg ist bis heute in der Stadt greifbar: Im Schaufenster des örtlichen Gewandhauses schildern Aquarelle von 1945 und Texttafeln der Siebzigerjahre die Tieffliegerangriffe und Bombenabwürfe sowie die letzten Kampfhandlungen, die Eroberung der Stadt durch die Amerikaner und deren Übernahme durch die Russen. Von hier führt eine direkte Linie zu Rauchs Kinderzeichnungen.
Neo Rauch und die Kuratorinnen in Aschersleben legen eine unübersehbare Spur von den Kriegsgeschichten zum Œuvre des Künstlers, nicht nur durch Interviews und martialisches Spielzeug in der Vitrine. Das geschieht auch durch sieben aktuelle Werke Rauchs, die in die Ausstellung integriert wurden. Hier trifft der Besucher auf etliche Indizien der Vergangenheit und auf Husaren des Magdeburgischen Regiments Nr. 10, erkennbar an ihren grünen Uniformjacken und Mützen mit Augenschirm.
In einem Fall beobachtet ein zarter Junge zwei Husaren beim Rauchen, in einem zweideutig mit „Neo 65“ betitelten weiteren Blatt wacht ein Husar über denselben Jungen, der nun an einem Zeichentisch sitzt. Warum der Künstler und die Kuratorinnen diese Spur zum Krieg gelegt haben, verrät die Ausstellung natürlich nicht. Aber sie lehrt mehr über Rauchs Bilder als so mancher Blockbuster der letzten Jahre. Und sie zeigt einen ironischen und zugleich liebevollen Blick zurück auf die eigenen Anfänge als Künstler.
Neo Rauch. Zeichnungen 1965 bis 1968. Grafikstiftung Neo Rauch, Aschersleben; bis zum 3. Mai 2026. Kein Katalog.