Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj gibt sich kämpferisch. „Die Ukrainer sind und bleiben auf diesem Land, wo in hundert Jahren unsere nächsten Generationen leben werden“, schrieb er auf Telegram anlässlich des Unabhängigkeitstages des Landes. Dazu veröffentlichte er Fotos der Feierlichkeiten am Sonntag vor der Sophienkathedrale im Zentrum Kiews. In seiner Rede betonte er, der Krieg habe zu einem neuen Selbstwertgefühl der Ukrainer geführt, die sich nicht mehr auf den guten Willen anderer verließen, sondern ihr Schicksal selbst in die Hand nähmen und bereit seien, für ihre Freiheit zu kämpfen. „Die Ukraine wird immer ein unabhängiger Staat bleiben, ein souveräner Staat, gleichberechtigt unter Gleichen in Europa.“
Zu den Feierlichkeiten waren der kanadische Ministerpräsident Mark Carney und der Ukraine-Sonderbeauftragte des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, Keith Kellogg, sowie mehrere europäische Verteidigungsminister angereist. Die Ukraine löste sich im Jahr 1991 von der Sowjetunion. Im vierten Kriegsjahr feiere man unter Angriffen, mit Luftalarm, aber man bleibe stark und stehe nicht allein da, sagte Selenskyj weiter. „Jeden Tag schickt die Ukraine diesen Krieg dorthin zurück, woher er gekommen ist – in den russischen Himmel und auf russischen Boden.“ Die ukrainische Zeitung „Ukrainska Prawda“ titelte auf ihrer Internetseite, Russland habe zum Unabhängigkeitstag der Ukraine mit 72 Drohnen und Raketen „gratuliert“. Am Nachmittag meldeten russische und ukrainische Behörden, dass beide Seiten abermals Gefangene ausgetauscht haben. Es seien jeweils 146 Soldaten an die Gegenseite übergeben worden, teilte das russische Verteidigungsministerium mit.
Ukrainer nehmen Energieanlagen ins Visier
In der Nacht zu Sonntag griff die Ukraine Energieanlagen in Russland an und nahm dabei eines der größten russischen Atomkraftwerke sowie einen wichtigen Ostsee-Hafen ins Visier. In Ust-Luga im Leningrader Gebiet entfachten die Trümmerteile einer abgeschossenen Drohne am Sonntagmorgen russischen Behörden zufolge einen Brand in einem Gasterminal. Bilder in russischen Exilmedien zeigten, wie eine schwarze Rauchsäule über dem Terminal aufstieg. Nach vorläufigen Angaben gab es keine Verletzten.
Auch in der Nähe des Kernkraftwerks Kursk wurde eine Drohne abgeschossen. Dabei sei ein Transformator durch Trümmer beschädigt worden, teilte die Pressestelle des Kraftwerks mit. Es habe keine Verletzten gegeben, die Strahlenwerte hätten sich nicht verändert. Das Verteidigungsministerium in Moskau teilte mit, die Luftwaffe habe insgesamt mindestens 95 Drohnen über mehr als zwölf russischen Regionen unschädlich gemacht. So sei auch eine Ölraffinerie im Gebiet Samara ein Ziel gewesen. In im Gebiet Rostow, das im Westen an die Ukraine grenzt, brannte es in einer Raffinerie nach einem Drohnenangriff am Sonntag schon den vierten Tag in Folge.
Selenskyj erinnerte in seiner Rede an die täglichen Luftangriffe Russlands auf zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser und Schulen in der Ukraine. Man antworte darauf mit Attacken auf Treibstoffdepots und Militärflugplätze tief in Russland. „Und niemand kann uns solche Angriffe verbieten, denn das würde der Gerechtigkeit zuwiderlaufen.“ Diese Passage wirkte wie eine Reaktion auf einen Bericht des „Wall Street Journal“ vom Wochenende. Die Zeitung schrieb unter Berufung auf Regierungsbeamte, dass das amerikanische Verteidigungsministerium der Ukraine seit Monaten den Einsatz von Raketen mit größerer Reichweite für Angriffe auf Ziele in Russland blockiere. Demnach muss die Ukraine beim Pentagon um Genehmigung bitten, um die von den USA gelieferten ATACMS-Raketen gegen Ziele in Russland einzusetzen. Mindestens einmal sei dies abgelehnt worden.
Präsident Joe Biden hatte in den letzten Monaten seiner Amtszeit Angriffe mit weitreichenden Waffen gegen militärische Objekte in Russland erlaubt. Amerikanische Medien spekulierten, dass es dabei vor allem um Angriffe im russischen Gebiet Kursk gehen sollte, das die ukrainische Armee teilweise in einer Offensive unter ihre Kontrolle gebracht hatte. Das Weiße Haus bestätigte Ende November den Einsatz von ATACMS in Kursk. In der vergangenen Woche hatte Trump geäußert, es sei „sehr schwer, wenn nicht unmöglich, einen Krieg zu gewinnen, ohne das Land des Invasors anzugreifen“.
USA wollen mehr als als 3000 Marschflugkörper liefern
Der Militärfachmann Nico Lange glaubt, dass mit dieser Äußerung ein Umdenken bei Trump eingesetzt habe. Das macht er auch an der Zusage der Amerikaner fest, in den kommenden Wochen mehr als 3000 Marschflugkörper zu liefern, die eine größere Reichweite haben. „Die sogenannten ERAM sind Abstandswaffen, mit denen man bis zu 500 Kilometer weit schießen kann“, erklärt Lange im Gespräch mit der F.A.Z. Zudem habe die Ukraine ihr eigenes Programm zum Bau von Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern stark weiterentwickelt.
In der vergangenen Woche kündigte Selenskyj die Massenproduktion des Marschflugkörpers „Flamingo“ an. Die soll eine Reichweite von bis zu 3000 Kilometern haben und könnte damit tief im russischen Hinterland angreifen. Laut Lange ist die Produktion des „Flamingo“ deutlich günstiger als die Herstellung westlicher Modelle. Zudem könne man einen schweren Sprengkopf anbringen, mit dem auch gehärtete Ziele getroffen werden könnten. „Denken Sie an Drohnenfabriken, Hauptquartiere oder Bunker, in denen Munition lagert, möglicherweise Flugplätze.“
Trump gratulierte der Ukraine zu ihrem Unabhängigkeitstag mit einem Brief, den Selenskyj auf der Plattform X veröffentlichte. „An diesem wichtigen Tag sollten Sie wissen, dass die Vereinigten Staaten Ihren Kampf respektieren, Ihre Opfer würdigen und an Ihre Zukunft als unabhängige Nation glauben“, so Trump. Doch er betonte auch: „Es ist Zeit, das sinnlose Töten zu beenden.“ Die USA unterstützten „eine Verhandlungslösung, die zu einem dauerhaften und nachhaltigen Frieden führt, das Blutvergießen beendet und die Souveränität und Würde der Ukraine schützt“.