Auf der internationalen Bühne wirkt Starmer staatsmännisch und souverän. An der Heimatfront wirkt er jedoch unentschlossen und tritt in jedes Fettnäpfchen. Die Umfragewerte des britischen Premierministers sind unterirdisch.

Keir Starmer versprach den Briten nicht das Blaue vom Himmel, sondern seriöse Arbeit. Noch gelingt ihm aber auch das nicht. Keir Starmer versprach den Briten nicht das Blaue vom Himmel, sondern seriöse Arbeit. Noch gelingt ihm aber auch das nicht.

Phil Noble / Reuters

Zuerst ging es nur um «The Bell», ein Hotel in Epping im Norden von London. Ein Asylbewerber, von der Regierung dort temporär einquartiert, war beschuldigt worden, ein Mädchen sexuell belästigt zu haben. Er wies den Vorwurf zurück. Rechtsextreme Hooligans begannen, Asylbewerber anzugreifen. Die Gemeinde Epping rief darauf das Hohe Gericht an, die Einquartierung von Asylbewerbern im Hotel künftig zu verbieten. Sie bekam recht. Am Dienstag entschied das Gericht, dass die Asylsuchenden bis am 12. September weg sein müssen.

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Was in Epping begann, weitete sich bis zum Wochenende für den Regierungschef Keir Starmer zu einem gigantischen Problem aus. Proteste und Gegendemonstrationen fanden in ganz England vor Hotels statt, in denen Asylbewerber untergebracht sind. Der Regierung droht, wieder einmal, die Kontrolle über die Lage zu entgleiten.

Dabei hatte Keir Starmer doch gerade diese Woche so eine gute Figur gemacht: Am Tisch im Weissen Haus zusammen mit den europäischen Staats- und Regierungschefs und dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski. Starmer zeigte, wie wichtig das Vereinigte Königreich trotz Brexit auf dem internationalen Parkett ist.

Populismus geht weiter

Zu Hause aber gelingt ihm nichts. Seit über einem Jahr ist Starmer Premierminister. Mit einer komfortablen Mehrheit im Unterhaus ausgestattet, sollte er seine moderate Labour-Politik ohne Probleme bis zu den nächsten Wahlen 2029 umsetzen können. Nach vierzehn Jahren konservativer Herrschaft, die dem Vereinigten Königreich die ökonomisch schmerzhaften Folgen von Brexit und chaotischer Regierungspolitik eingebrockt hatten, galt der Jurist und ehemalige Direktor der britischen Staatsanwaltschaft mit seiner biederen Art als Idealbesetzung für die britische Insel. Sie sehnte sich nach unfähigen Premierministern wie Boris Johnson und Liz Truss nach einer anständigen, langweiligen Figur und hoffte auf den Beginn eines postpopulistischen Zeitalters.

Aber weit gefehlt. Das populistische Zeitalter ist nicht vorbei. Auch nicht in Grossbritannien. Und Starmer schafft es auch nicht, solide Politik zu machen. Viele Probleme hat er geerbt, einige hat er aber selbst zu verantworten. Er wirkt indes, als ob er keine Ahnung hat, wie er sie lösen will.

Die Asylmisere steht exemplarisch dafür. Derzeit sind 32 000 Asylbewerber in britischen Hotels untergebracht. Das sind 8 Prozent mehr als im Jahr davor. Die Idee, Flüchtlinge in Hotels unterzubringen, stammt zwar nicht von Labour, die Konservativen hatten damit begonnen, da Aufnahmezentren für Migranten überfüllt waren. Starmer konnte die Zahl aber nicht verringern, auch nicht jene der Asylanträge. 111 000 waren es bis Juni, ein Rekordwert. Starmer hatte versprochen, den Menschenschmugglern das Handwerk zu legen.

Der Premierminister versuchte das Problem durch Annäherung an die EU anzugehen: Mit Frankreich schloss er einen Migrationspakt, man geht jetzt gemeinsam gegen organisierte Schlepperbanden vor. Und Deutschland hat versprochen, die Lagerhäuser, in denen die Schlauchboote zusammengebaut werden, stärker zu kontrollieren. Immerhin.

Doch Starmer trat dann gleich wieder in ein Fettnäpfchen. Bei einer Rede zur Einwanderung warnte er davor, dass Grossbritannien, sollte man nicht aufpassen, zu einer «island of strangers» werde, einer Insel von Fremden. Das erinnerte viele an die hetzerische Sprache von Enoch Powell, einem konservativen Politiker, der 1967 in einer berüchtigten Rede den Satz gesagt hatte: «Aus Gründen, die sie (die weissen Einwohner Grossbritanniens, Anm.) nicht nachvollziehen konnten und aufgrund einer Entscheidung, zu der sie nie konsultiert wurden, fanden sie sich als Fremde in ihrem eigenen Land wieder.» Starmer musste sich für seine Wortwahl entschuldigen.

Keir Starmer wird auch künftig in Downing Street bleiben, mitsamt seinen Problemen. Keir Starmer wird auch künftig in Downing Street bleiben, mitsamt seinen Problemen.

Wiktor Szymanowicz / Imago

Starmer wird von links als fremdenfeindlich und von rechts als zu fremdenfreundlich angegriffen. Bei anderen Themen ist es ähnlich: Die Konservativen hinterliessen ein riesiges Loch im Staatshaushalt, das die Labour-Regierung jetzt gerade mit einer Mini-Austeritäts- und Steuerpolitik zu bekämpfen versucht. Superreichen wurden neue Steuern aufgebrummt – worauf manche ihren Wohnsitz nach Mailand verlegten, wo sie nur eine Flat-Tax von 200 000 Euro zahlen, während in London jetzt auch Auslandsvermögen für Nicht-Staatsbürger besteuert werden.

Die Regierung von Starmer zieht sich allerdings auch die Wut der eigenen ärmeren Wählerbasis zu: Im ersten Herbst strich Finanzministerin Rachel Reeves den Heizkostenzuschuss für alle Rentner. Und im Juli führte der Versuch der Regierung, die Beihilfen für Behinderte zu kappen, zu einem regelrechten Aufstand der Labour-Hinterbänkler im Unterhaus.

Starmer ruderte zurück und jetzt ist die Reform des Wohlfahrtsstaates derart verwässert, dass kaum Geld eingespart werden dürfte. Und wieder wird Starmer verteufelt. Dass seiner Finanzministerin Rachel Reeves während der Revolte im Parlament die Tränen übers Gesicht liefen, half der Glaubwürdigkeit der Regierung nicht gerade.

Hat man zu Beginn der Misere, als Keir Starmer über Nichtigkeiten wie eine teure geschenkte Brille in Verruf geriet, noch sein PR-Team verantwortlich gemacht, schiesst sich inzwischen nicht nur die rechte Boulevard-Presse auf ihn ein. «Anfangs galt er als ruhige Hand», sagt Tim Bale, Professor für Politikwissenschaft an der Queen Mary University of London, «jetzt aber wollen die Briten einen Premierminister, der in diesen unruhigen Zeiten eine klare Richtung vorgibt.»

Genau die gibt Starmer aber nicht vor. Zwar hat der heute 62-jährige Labour-Mann seine Partei von seinem Vorgänger Jeremy Corbyn und den meisten von dessen Getreuen rasch und recht forsch befreit, weil diese die traditionelle Arbeitspartei mit antisemitischen und prorussischen Positionen in Verruf gebracht hatten. Jetzt aber setzt er kaum oder bloss widersprüchliche Schwerpunkte. So liess Starmer die propalästinensische Gruppe Palestine Action als terroristische Organisation einstufen, gleichzeitig stoppte er die Lieferungen von Waffen nach Israel, die in Gaza eingesetzt werden können. Natürlich, seine Verteidiger könnten sagen, das ist sehr differenzierte Politik. Allein, es verteidigt ihn kaum mehr jemand.

So wird der Ruf, den glücklosen Premierminister zu ersetzen, immer lauter. Die Umfragen könnten deutlicher nicht sein: Nur 24 Prozent der Briten äussern sich in Umfragen positiv über ihn, 68 Prozent halten ihn für einen schlechten Regierungschef. Ob der Politologe Bale wie so viele im Land inzwischen auch glaubt, dass Starmer ein guter Staatsanwalt, aber eben kein guter Politiker sei? Bale weicht aus: «Eines ist sicher: Starmer ist eine Belastung für die Partei geworden.»

Das Desaster hat zwei Männer auf den Plan gerufen: Der Rechtspopulist Nigel Farage sitzt inzwischen im Parlament und seine Partei Reform UK gewann bei den Gemeinderatswahlen im Mai die höchste Zahl von Sitzen. Der Brexit-Champion greift Starmer jetzt wahlweise von rechts, aber auch von links an.

Donald Trump mag Keir Starmers schönes Englisch: Das kann dem Premierminister nur recht sein. Donald Trump mag Keir Starmers schönes Englisch: Das kann dem Premierminister nur recht sein.

Tolga Akmen / Pool / EPA

Starmers alter Parteifeind Jeremy Corbyn will ebenfalls die Gunst der Stunde nutzen. Da Linke und Gewerkschaften gegen den jetzigen Parteichef auf die Barrikaden gehen, will Corbyn eine Linkspartei gründen und seiner alten Partei den linken Flügel abzwacken. Doch auch er ist vor allem eine Figur aus der Vergangenheit.

Wer könnte ihn beerben?

Das Umfrageinstitut Ipsos hat ermittelt, wen die Briten am liebsten zum Ersatzchef küren würden: Andy Burnham, Labour-Bürgermeister von Manchester, wird viel zugetraut. Der charismatische, moderate Burnham hat allerdings ein Handicap: Er sitzt weder im Parlament noch in der Regierung. Der Sprung an die Parteispitze und zum Regierungschef wäre eine Herausforderung.

Von den Ministern käme Wes Streeting infrage, der seit Jahren als möglicher Premierminister gehandelt wird. Der Gesundheitsminister ist ein talentierter Kommunikator. Bei den Labour-Mitgliedern aber käme er niemals als Kandidat durch, sagt Tim Bale: «Streeting bekommt vielleicht 15 Prozent. Bei innerparteilichen Wahlen würde Angela Rayner haushoch gewinnen.» Rayner ist Starmers Stellvertreterin, eine begabte Strategin, aber auch eine Sozialistin. Die derzeit herrschenden Parteistrategen würden sich eher entleiben, als den linken Flügel zu stärken.

Keir Starmer muss derzeit nicht um seinen Kopf fürchten. Wie er aber aus der politischen Sackgasse herauskommt, in die er sich selbst hineinmanövriert hat, bleibt unklar.

Auf dem internationalen Parkett macht er sich ganz gut. Keir Starmer in Den Haag. Auf dem internationalen Parkett macht er sich ganz gut. Keir Starmer in Den Haag.

Freek Van Den Bergh / Imago

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